Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wilfried blieb noch eine halbe Minute sitzen, das Wie zu überlegen. Es führte zu nichts. Er würde das Rechte auch so finden.

Er erhob sich und schritt langsam auf das Mädchen zu.

Sie hatte bei der Annäherung des Herrn, der eben – sicher über sie – so eifrig mit dem Kellner gesprochen, den Kopf erhoben. Als er vor ihr an der anderen Seite des Tisches stehen blieb, spielte ein Lächeln um ihren hübschen Mund.

Fräulein Elise Schulz?

Sie errötete durch die Schminke, mit der, wie Wilfried jetzt sah, ihre Wangen überhaucht waren, und blickte ihn halb erschrocken an. Die Augen waren groß und tief, blau, glanzlos.

103 Ich müßte mich sehr irren, mein Fräulein; oder ich bin Ihnen bereits gestern abend begegnet – bei Josty.

Sie hatte jetzt gleichfalls den Herrn, der ihr und der Freundin gestern den Tisch abgetreten, wiedererkannt. Mit dem Hochmut, den ihm die andere vorgeworfen, konnte es nicht so weit her sein. Würde er sie sonst hier angeredet haben?

Sie wurde abermals rot, und jetzt kam auch ein lebhafterer Ausdruck in ihre Augen.

Wir sind also, so zu sagen, Bekannte, fuhr Wilfried fort. Da darf ich wohl –

Bitte sehr!

Er hatte auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz genommen; ohne scheinbar darauf zu achten, daß sie ihr Kleid zusammenstrich, als ob er ihrethalben gern näher rücken möge.

Ich bin auch, wenngleich erst seit kurzem, ein Bekannter Ihrer Familie, vorausgesetzt, daß eine gleichen Namens, die in der Wichmannstraße wohnt, die Ihre ist. Sie brauchen mich nicht so ängstlich anzusehen. Meine Neugier entspringt aus keiner schlechten Absicht – im Gegenteil. Ich will den Ihren wohl und will es auch Ihnen. Mein Wunsch ist, Ihnen allen zu helfen; ich bin in der Lage, es zu können, so weit da menschlicherweise von Hilfe zu reden ist. Für die Ihren ist schon einiges geschehen; es soll und wird noch mehr gethan werden. Im Augenblick handelt es sich für mich darum, daß Sie mir Vertrauen schenken. Das andere wird sich dann finden.

Sie hatte, die niedergeschlagenen Augen nur ein paarmal flüchtig hebend, zugehört. Bei seinen letzten Worten zuckte es um ihren kleinen Mund, als würde sie in Weinen ausbrechen. Aber sie bezwang sich sofort und sagte in einem Ton, der offenbar trotzig klingen sollte:

Ich weiß nicht, mein Herr, was Ihnen der Kellner von mir gesagt haben mag. Er kennt mich nicht, kann mich gar nicht kennen. Ich bin hier zum erstenmal; heiße auch nicht so, und –

Dann habe ich freilich um Entschuldigung zu bitten.

Wilfried machte eine Bewegung aufzustehen. Das Mädchen hatte das Recht, sein Anerbieten zurückzuweisen. Aufdrängen durfte, wollte er sich nicht. Sie streckte die Hand aus, die in einem hellen, offenbar wiederholt gewaschenen Glacéhandschuh stak.

Nein, nein! bitte, bleiben Sie! Es ist alles wahr, alles –

Durch ihre leisen Worte klang eine solche Angst, in den großen Augen, die sie jetzt zu ihm erhoben hatte, lag ein solches Flehen –

Armes, armes Kind! murmelte Wilfried.

Eine kurze Zeit schwiegen beide. Sie weinte still, ein feines, aber schadhaftes Taschentuch wiederholt in die Augen drückend, zwischendurch ängstlich nach der Veranda draußen blickend, auf der es jetzt lebhafter zuging, und nach dem Kellner, der, ein Bein über das andere geschlagen, noch immer an dem Pfosten der zweiten Thür lehnte. Das Tête-à-Tête konnte jeden Augenblick durch das Eintreten anderer Gäste in den Saal gestört werden; Wilfried mußte versuchen, in Erfahrung zu bringen, was er durchaus wissen mußte.

Wo wohnen Sie, Fräulein Elise?

Sie nannte eine Nummer in der Schützenstraße.

Allein?

Die Antwort kam nicht sogleich. Und dann:

Mit einer Freundin.

In deren Begleitung Sie gestern abend waren?

Elise Schulz nickte.

Das ist eine schlimme Freundin, fürchte ich. Die erste Bitte, die ich an Sie habe, ist: trennen Sie sich von der!

Ich kann es nicht, flüsterte sie.

Warum nicht?

105 Ich – ich – bin ihr Geld schuldig.

Wieviel? Genieren Sie sich nicht! Ich muß es wissen.

Beinahe hundert Mark.

Und wenn Sie die zurückzahlen, könnten Sie sich frei machen?

Ich könnte es wohl.

Und wollten es auch?

Ach ja! sie ist gar nicht gut zu mir.

Sie versprechen es mir, wenn ich Ihnen dazu verhelfe? Bitte, sagen Sie ja!

Ja, aber –

Kein aber! Sie versprechen es mir. Es soll Sie nicht gereuen. Und hier –

Er blickte sich prüfend um; es achtete entschieden niemand auf sie.

Hier sind zweihundert Mark. Aber so nehmen Sie doch! Und in die Tasche! schnell! So! Davon bezahlen Sie Ihre Schuld. Für das übrige mieten Sie sich sofort eine andere Wohnung, meinetwegen bei armen kleinen Leuten, wenn sie nur anständig sind. Glauben Sie, das morgen im Lauf des Tages fertig zu bringen?

O ja, das könnte ich wohl.

Gut. Wenn Sie damit zu stande sind, lassen Sie mich sofort auf einer Postkarte Ihre neue Adresse wissen. Hier haben Sie die meine.

Er hatte eine Visitenkarte aus dem Täschchen genommen. Sie warf einen schnellen Blick darauf.

Ach! ich dachte es mir.

Was?

O, nichts, nichts. Nur, daß Sie ein sehr vornehmer Herr sein müßten. Schon gestern abend –

Sie werden darum nicht schlechter von mir denken. Und noch eins: sobald ich Ihre neue Adresse weiß, werden Sie weiter von mir hören. Bis dahin halten Sie sich hübsch zu Hause. Wollen Sie das?

Ich will alles, was Sie wollen.

106 Jetzt waren ihre Augen nicht mehr glanzlos: es drang aus ihnen ein Blick innigster, fast schwärmerischer Dankbarkeit. Mit einer Gebärde, in der keine Spur von Koketterie war, streckte sie ihm die Hand hin, wie zur Bekräftigung dessen, was sie versprochen hatte.

Wir sind also einig, sagte Wilfried, den Druck der kleinen Hand erwidernd. Ich muß jetzt fort. Sie bleiben auch nicht länger hier?

Keine Minute.

Wilfried war gegangen. In dem Augenblick, als er den Rücken gewandt, drehte sich der Kellner um und kam, die eine Hand in der Hosentasche, mit der andern spöttisch das Tellertuch schwenkend, auf das Mädchen zu, das bereits aufgestanden war.

Na, Fräulein, nicht wahr, eine feine Bekanntschaft? Zu der hab ich Ihnen verholfen. Gott, Sie brauchen mich nicht so glupsch anzusehen! Ich meine es ja gut mit Ihnen.

Das Mädchen erwiderte kein Wort. Stumm wies sie auf das Geld, das sie auf den Tisch gelegt hatte, und ging schnell durch die um diese Stunde noch leeren inneren Räume dem Ausgang zu. Sonst hatte sie ihren Weg immer über die Veranda genommen, sich langsam, einen besonders kecken Blick mit einem verstohlenen Lächeln erwidernd, zwischen den Gästen hindurchschlängelnd.

Wie die sich hat! brummte der Kellner, den Tisch abwischend. Na ja! so ein Graf kommt ihnen nicht alle Tage.

* * *


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