Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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360 Der Stallmeister bei Nonn war nicht eben verwundert, als Wilfried ihn heute bat, ihm für den Braunen, den er eine halbe Stunde lang in der Bahn bewegt hatte, einen Käufer zu verschaffen. Aus den Reden seiner vornehmen Kunden hatte er bereits entnommen, daß die Verlobung zwischen dem Grafen und der Komtesse Cousine zurückgegangen sei; und die Äußerungen, die dabei über Wilfried gefallen waren, der stets so höflich und freundlich zu ihm gewesen, hatten den braven Mann gründlich geärgert. Noch mehr aber das Benehmen der Komtesse zu dem Grafen Leßberg, der sie nun schon seit drei Tagen zu verschiedenen Stunden abgeholt und auch wieder zurückgebracht hatte. Doch hatte er sich weislich gehütet, Wilfried mit indiskreten Fragen zu belästigen; ihm nur bereitwillig zugesagt, daß er sich bemühen werde, für ein so kapitales Pferd, welches bei allem Temperament auf die leiseste Hülfe reagiere, den höchsten Preis herauszuschlagen; und vor allem mit Bestimmtheit hoffe, der Herr Graf werde im Herbst, wenn er von der Reise zurückkehre, wieder zu seinen Kunden gehören.

Die Reise war eine Erfindung des Mannes, um die Situation in möglichst harmlosem Lichte erscheinen zu lassen. Wilfried hatte kein Wort davon gesagt.

Um zwölf Uhr nach Hause zurückgekehrt, fand er den Brief der Schwägerin vor, den er nun mit sehr wechselnden Empfindungen las. Die gute Kunde über Giselas Zustand erfreute ihn um so mehr, als er nach dem, was er gestern abend beobachtet, sehr Schlimmes befürchten mußte; dafür erschreckte ihn was Margarete von dem Herzleiden Dagoberts schrieb, das denn doch, mochte auch übertriebene Sorge ihr die Feder geführt haben, ernstlicher schien, als er bis jetzt irgend angenommen. Schließlich empfand er es schmerzlich, daß er bei der Nachricht von der so baldigen Abreise der Familie und Margaretes Wunsch und Bitte, sie vorher nicht noch einmal aufzusuchen, erleichtert aufatmen konnte. Wie hätte er das noch vor 361 acht Tagen für möglich gehalten! Wie grundmäßig mußte die Veränderung sein, die seitdem mit ihm vorgegangen! Jetzt erst empfand er ganz den ungeheuren Verlust, den ihm der gestrige Abend gebracht hatte. Als er heute nacht von der Unterredung kam und ziellos durch die stillen Straßen schweifte, seiner Erregung Herr zu werden, hatte der Zorn, der ihm die Seele füllte, den Schmerz nicht zu Worte kommen lassen. Er, den er so hoch gestellt, über alle andern Menschen, als ein engherziger Aristokrat war er vor ihm gestanden, der von dem Sturm, der durch die Zeit brauste, nichts empfand, oder ihn doch beschwören zu können glaubte mit dem Hokuspokus aus dem alten Zauberbuch des Gottesgnadentums der Könige und dem Ammenmärchen der Erbweisheit einer Handvoll blaublütiger Geschlechter. Und dann natürlich sich in den Staub beugte vor einem von der Sippe, der als Herakles angestaunt wurde, weil man in seiner unheilbaren Anbetungswut einen mythologischen Heros haben mußte, auf dessen Scheitel man den Ruhm der Arbeit häufen konnte, an der seit Menschenaltern ein ganzes Volk geschafft hatte!

Und wie hatte durch allen Schein rücksichtsvoller Höflichkeit die Mißachtung durchgeblickt, in der er in den Augen des Mannes stand, »der so viel Erfahrung in diesen Dingen hatte!« Mein Gott, ja! er konnte keine Thaten aufweisen! Mußte man ihm deshalb die Kraft absprechen, jemals welche vollbringen zu können? Mußte durch alle freundlich verbrämten Reden das verfluchte Wort »Salonsocialist« doch wieder hindurchklingen? Um in der Schlußphrase von Margaretens Brief ein letztes verhallendes Echo zu finden?

Wieder wollte der Zorn von heute nacht in ihm aufwallen. Weg damit! Und mit allem, was bis heute von dem alten Leben noch immer auf ihm gelastet und ihn nicht fröhlich in das neue hatte hineinschreiten lassen! Jetzt, nachdem er das letzte, schwerste Hemmnis überwunden, er den Mut gehabt, sich von dem geliebten Bruder 362 loszusagen, war die Bahn völlig frei. Die Besprechung mit Herrn Levy, den er um ein Uhr zu sich gebeten, hatte nur eine vorläufige sein sollen. Jetzt mochte, jetzt sollte es zu einer festen Abmachung kommen.

Und da meldete Zunz: es sei ein kleiner, sehr jüdisch aussehender Herr da, der keine Karte abgegeben, seinen Namen auch nicht genannt habe, aber behaupte, er werde von dem Herrn Grafen erwartet.

Lassen Sie ihn sofort eintreten! befahl Wilfried.

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