Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Sie trug das enganliegende schwarze Kleid mit dem weißen Krägelchen, wie bei sich zu Hause; dazu ein offenes dunkles Jäckchen und ein rundes Hütchen ohne Federn oder sonstigen Aufputz. In ihren Augen die sonnige Klarheit, in die zu blicken für Wilfried so erquicklich war.

Ich komme zu Ihnen, sagte sie, ihn freundlich begrüßend, anstatt Sie zu mir zu bitten, im Interesse unserer Angelegenheit, die so schneller vorwärts rückt. Hoffentlich nicht ungelegen?

Kann man das bei einem Müßiggänger, Frau Doktor? Meine verdienstvolle Tagesarbeit bestand bis jetzt in einem drei- oder vierstündigen Ritt durch den Grunewald.

Immerhin eine Leistung. Ich habe mich auch ehrlich getummelt, wenngleich nur Trepp auf, Trepp ab, durch cirka zwanzig Häuser, die nicht immer gerade herrschaftlich waren – Hinterhäuser pflegen das nicht zu sein. Aber ich konnte nur da zu finden hoffen, was ich suchte und endlich glücklich gefunden habe: eine passende Wohnung für die Schulz: Nettelbeckstraße, ein paar Häuser von dem, in welchem mein Mann seine Klinik hat; sogenannte Gartenwohnung, drei Zimmer: ein größeres und zwei kleinere; 213 Küche – freundlich, hell, drei Treppen, jährlich siebenhundert Mark, pränumerando quartaliter. Ich habe mich sehr ernstlich gefragt, ob ich eine so hohe Miete verantworten kann.

Und mir will scheinen, als ob eine so kleine Wohnung für drei Personen – wenn Fräulein Lotte denn wirklich bei den Eltern bleiben will –

Ich habe noch einmal eingehend mit ihr gesprochen. Auch ich gönnte dem Mädchen ein besseres Los – sie beharrt auf ihrem Vorsatz.

Aber, mein Gott, rief Wilfried, das heißt doch, sie geradezu opfern! Und wofür? für diese Eltern, die es in keiner Weise um sie verdienen; denen es wahrlich nicht zu danken ist, wenn Sie sie heute ein prächtiges Mädchen nennen dürfen. Und für die ein so ungeheures, so grausames Opfer von so viel Edelmut, so großer Schönheit und Jugend schließlich doch umsonst gebracht wird: bei diesen Leuten hat das Laster schon zu tief gefressen; sie sind nicht mehr zu retten.

Die klugen Augen der Frau hatten, während er so sprach, mit einem prüfenden Ausdruck in sein Gesicht geblickt, aus dessen Blässe und leidenschaftlich starren Augen die größte Erregung sprach. Was bedeutete das? Das war nicht die einfach humane Teilnahme eines Menschen an dem Geschick eines andern, wie in ihrer ersten Unterredung; das waren Herzenstöne von einer Wärme, wie sie nur ein Gefühl zeitigt, das entweder schon Liebe ist, oder auf dem besten Wege, es zu werden. Und auch Lottes schöne Augen hatten, wenn sie mit ihr von dem Grafen gesprochen, in einem Glanz aufgeleuchtet, für den ihr die rechte Deutung gekommen zu sein schien, als sie jetzt denselben Ausdruck in den Augen des Grafen sah. Daß er, der sich so naiv verriet, keine unlauteren Absichten hegte, darauf hätte sie schwören mögen. Um so kritischer war der Fall.

Aber von dem, was mit der Schnelligkeit des Blitzes 214 schreckhaft durch ihre Seele gezuckt war, ließ die ruhige Miene nichts ahnen, mit der sie jetzt in ihrer heiter klaren Weise erwiderte:

Sie müssen schon erlauben, daß ich in diesem Falle anderer Meinung bin. Zuerst, lieber Freund, ich meine: wir haben einen so edlen Willen, wie er hier sich offenbart, einfach zu ehren. It is never to late to mend, sagt ein englisches Sprichwort, dessen Wahrheit zu erproben ich in meinem Leben mehr als einmal Gelegenheit gehabt habe. Sodann, was die Eltern angeht: wir wollen ja nicht richten; wir wollen helfen; unglücklichen, in Sünde und Laster verirrten Menschen wieder auf den rechten Weg helfen. Haben Sie selbst denn nicht das schönste Beispiel dieser Hilfsbereitschaft gegeben, als Sie sich Lottes Schwester erbarmten, von der auch tausend andere gesagt hätten, daß ihr nicht mehr zu helfen sei?

Über dem Vielen, womit ihm während der kurzen Spanne Zeit inzwischen Kopf und Herz gefüllt und erregt waren, hatte Wilfried die Ärmste von vorgestern abend im Restaurant Bellevue beinahe vergessen. Er schämte sich dessen. Um so eifriger kam seine Frage heraus, ob Frau Doktor auch noch in dieser Angelegenheit einen Schritt habe thun können!

Mit einem wären wir nicht weit gekommen, erwiderte Frau Brandt lächelnd; es mußten schon mehrere sein. Also hören Sie! Als Ihr Diener mir gestern nachmittag die neue Adresse der Elise gebracht hatte, machte ich mich sogleich auf den Weg zu ihr. Ich fand sie nach einigem Suchen in einem Hinterhause, vier Treppen hoch bei armen, wie es schien, ordentlichen Leuten, in einem winzigen Zimmerchen. Welchen Eindruck sie auf mich machte? Ich hatte nur eine Empfindung: die innigsten Mitleids. Ein von Haus aus gutes, weiches, widerstandsloses Geschöpf, das unter günstigen Verhältnissen ihr harmloses Leben, sich und anderen zur Freude, so hingelebt hätte, in so mißlichen, schlimmen, wie ihr zu teil geworden, unterging; 215 ich möchte sagen: untergehen mußte. Sie hatte nicht Lottes Kraft und Stolz; ruhte nicht, wie Lotte, auf sich selbst. Sie brauchte Liebe, mußte sich anlehnen, anschmiegen können. Der Vater konnte sie nicht leiden, die Mutter kümmerte sich nicht um sie; Lotte war den ganzen Tag vom Hause fort, und kam sie heim, nahm die miserable Wirtschaft, die Sorge um die beiden jüngeren Geschwister, die sich stets zankenden Eltern, sie gänzlich in Anspruch. Und sie brauchte nicht nur Liebe. Ein zartes, leichtbeschwingtes Vögelchen, das sie war, sehnte sie sich nach Licht und Luft. Sie hatte anfänglich Lotte beim Putzmachen geholfen, indem sie kleine, nebenbei fallende Aufträge vorbereitete, die Lotte dann in der Nacht fertig stellte. So kam sie kaum aus der dumpfen Wohnung. Das war ein schwerer Fehler. Denn die Sehnsucht nach Freiheit, oder was es dafür hielt, steigerte sich in dem nervösen Kinde zu krankhafter Gier. Bekanntinnen, die in der Fabrik arbeiteten, malten ihr das ungebundene Leben, das sie führten, herrlich aus. Sie wollte es wenigstens einmal gekostet haben; wollte auch in die Fabrik. Lotte widerriet, widersetzte sich; vermochte gegen die Eltern nicht durchzudringen, in deren Augen der Umstand, einen Kostgänger weniger zu haben, alle Bedenken niederschlug, wenn sie welche hatten. Da die Fabrik, um die es sich handelte, zu entfernt von ihrer Wohnung lag, erhielt Elise die Erlaubnis, in größere Nähe zu einer Kameradin zu ziehen. Den Rest der kläglichen Geschichte – weshalb dabei verweilen? Aus dem Munde des Mädchens hätte ich ihn so wie so nicht: wer risse wohl Wunden auf, die so frisch bluteten, so grausam schmerzten? Hat Christus die Büßerin gesehen, wie ich die Unglückliche sah, er brauchte kein Gott zu sein, ihr ihre Sünden zu vergeben. Nur daß es für uns andere Menschen nicht damit gethan ist. Hier war noch viel zu thun. Schon gestern war meine Prognose: zu ihren Eltern kann das Mädchen nicht zurück. Das wurde mir nun vollends klar. Auch sträubte sich in dem Mädchen alles gegen den 216 Gedanken. Bei ihr war freilich eine Empfindung allmächtig, der ich nur eine subjektive Bedeutung beimessen konnte: sie fürchtete sich vor Lotte. Das mag Ihnen seltsam klingen; ich glaube, es mir wohl erklären zu können. Ein größerer Gegensatz als der zwischen den beiden Schwestern ist kaum denkbar. Die arme Gefallene würde sich lieber in Henkershand geben, als ihrer Schwester so wieder unter die Augen treten. Dergleichen Symptome in krankhaften Zuständen wollen immerhin beachtet sein; den Ausschlag giebt für mich ein anderes: gewissen Patienten kann Genesung nur eine radikale Luftveränderung bringen. Auch diese meine Ansicht kennen Sie schon von gestern her; und warum sich hier meine Hoffnung sogleich auf Pfarrer Römer richtete. So fuhr ich denn von Elise direkt zu ihm. Warum sehen Sie mich so erstaunt an?

Weil ich noch in meinem Leben bei keinem Menschen so viel Herzensgüte mit solcher Sicherheit der Entschließungen und solcher Thatkraft vereinigt, gefunden habe.

Was die beiden letzteren Items betrifft, so thut da die Übung beinahe alles. In unserem Falle wäre auch ein anderer leicht zum Ziele gekommen. Bitte, das wörtlich zu nehmen: Elise ist bereits vor einer Stunde zu Pfarrer Römers übergesiedelt.

Bei Ihnen überrascht mich nichts mehr.

Und geht doch alles mit so rechten und recht einfachen Dingen zu. Ich sagte Ihnen, daß ich Herrn Römer kenne, ein echterer Jünger des großen Menschenfreundes nicht lebt. Helfen können, ist ihm eitel Lust. Daß ich ihm reinen Wein eingeschenkt; von der Geschichte des Mädchens nichts zurückbehalten; Ihre erste und zweite Begegnung mit ihr nach Ort und Zeit treulich berichtet habe, mögen Sie sich denken.

Aber, verehrte Frau, konnte ich nicht ganz aus dem Spiele bleiben?

Frau Brandt blickte verwundert auf:

217 Wie meinen Sie das? fragte sie in etwas gedehntem Ton.

Mißverstehen Sie mich nicht! erwiderte Wilfried. Ich meinte nur: die ganze Angelegenheit liegt bei Ihnen in so sichern, festen Händen. Was ich dabei thun kann, ist am Ende doch ganz äußerlich: eine materielle Hilfe, die jeder andere, der in der Lage ist, ebenso gut leisten könnte, und von der es dem Herrn Pfarrer gleichgültig sein dürfte, wer sie leistet. Dazu ein anderes Motiv. Ich weiß nicht recht, wie ich es in Worte kleiden soll: Sie werden mich schon verstehen. Es handelt sich hier in erster Linie um die Unterstützung zweier junger, schutzloser Mädchen, von denen das eine ungewöhnlich schön, das andere mindestens sehr hübsch genannt werden muß. Ein alter würdiger Herr als Protektor – à la bonheur! Ein junger Mann – besonders, wenn er einer Gesellschaftsklasse angehört, die der beste Freund der Armut und Verlassenheit sein sollte, und nur allzu oft ihr schlimmster Feind ist – erscheint da leicht in einem zweideutigen Licht. Sind seine Motive rein? oder sind sie es nicht? Wer kann in das Herz sehen?

Während Wilfried sprach und Frau Brandt eifrig zuhörte, lief durch ihren Kopf eine andere Gedankenreihe: Es ist ihm gar nicht um die Elise zu thun, nur um die Lotte. Er fürchtet sich vor ihr, oder für sie – gleichviel: er ist ein guter, zartfühlender Mensch, der wahrlich keinen Spott verdient.

So erwiderte sie gelassen:

Ich glaube, Sie vollkommen zu verstehen und daß Sie möglichst – so zu sagen – hinter den Coulissen bleiben möchten. Bis zu einem gewissen Grade wird sich das auch durchführen lassen, und ich will Ihnen dabei nach Kräften behilflich sein. So übernehme ich ohne weiteres in allen Einzelheiten die Installierung der Familie in die neue Wohnung. Auch alles rein Geschäftliche mit Frau Pfarrer werde ich abmachen; Sie sollen damit nichts zu thun haben. Aber ich habe, wie ich wohl nicht anders 218 konnte – oder ich sah doch keine Veranlassung, es zu unterlassen – Herrn Römer Ihren Namen genannt. Er wünscht dringend, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, sich mit Ihnen auszusprechen. Mehr noch: er erwartet Sie heute. Zwischen sechs und sieben. Später hat er eine Versammlung im Saal des Handwerkervereins. Nicht wahr: Sie besuchen ihn? Mir zuliebe?

Wilfried wollte zur bejahenden Erwiderung die ihm entgegengestreckte Hand küssen; sie zog sie ohne Hast zurück.

Nein, lieber Freund, das dürfen wir unter uns nicht aufkommen lassen! Wir sind Kameraden! Und nun, Ihnen zu beweisen, daß ich übrigens bin, wie die andern Frauenzimmer: ich möchte weiter Ihre Räume sehen, besonders den nebenan, in den ich schon durch die halboffene Thür neugierige Blicke geworfen habe. Erst einmal gleich hier! Welch' kuriose Bilder! Sie scheinen mir eine Sprache zu sprechen, die ich nicht verstehe, aber wohl verstehen möchte.

Es ist mir anfänglich nicht anders ergangen, sagte Wilfried. Jetzt glaube ich, so ziemlich Bescheid zu wissen, wenn ich auch noch hin und wieder auf dunkle Punkte stoße.

Sie machten langsam, oft stehen bleibend, die Runde: aus dem Empfangsraum in das Arbeits- und Speisezimmer, an das sich noch ein kleines, behagliches Rauchkabinett schloß, und wieder zurück. Frau Brandt, die anfangs mancherlei lebhaft gefragt hatte, war allmählich stiller geworden, zuletzt ganz verstummt.

Es ist alles in allem kein erfreulicher Eindruck gewesen, den Ihnen meine Wohnung gemacht hat? sagte Wilfried ohne Empfindlichkeit. Ich finde auch – finde es wenigstens jetzt – man sollte sich nicht mit solchem Luxus umgeben.

Das ist eine zweite Frage, erwiderte Frau Brandt. Auf Ihre erste kann ich Ihnen nur antworten: ich finde dies alles ganz wunderschön. Ich bin ja in meinem 219 Beruf durch viele prunkhafte Räume gekommen. Sie waren entweder nicht so geschmackvoll – wenn ich Arme von Geschmack reden darf – möglich auch: ich habe die Augen nicht ordentlich aufgemacht – man hat als Krankenpflegerin so viel andere Dinge im Kopf, eigentlich nur Sinn für die Krankenstube, ob da alles in Ordnung ist. Genug: dies ist wunderschön, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir alles so freundlich gezeigt und erklärt haben. Ihre zweite Frage: ob man sich solchen Luxus gönnen soll – ich wollte, ich wüßte, was darauf zu antworten ist. Als Socialdemokratin muß ich sagen: unbedingt nein! Keiner hat das Recht, so behaglich zu wohnen, sich mit so kostbaren und schönen Dingen zu umgeben, solange noch Tausende und Abertausende, Millionen seiner Menschenbrüder und Schwestern in traurigen, dumpfen, abstoßend häßlichen Spelunken, oft in schrecklichster Weise zusammengepfercht, ihr freudloses Dasein hinbringen. Das Ideal von uns Socialdemokraten ist, daß jeder, der Menschenantlitz hat, in menschenwürdigen Verhältnissen lebe. Daß für den Einzelnen dabei nicht viel abfallen wird, liegt auf der Hand und schreckt uns nicht. Es ist besser, daß alle sich bescheiden, als daß die ungeheure Mehrzahl darbt, damit eine verschwindend kleine Minderzahl sich jeden Genuß des Lebens bis zum Übermaß gewähren kann. Dann aber: wo bleibt das Schöne, Anmutige, das diese Räume füllt? Diese farbenfrohen Schildereien der bunten Welt? Diese zierlichen Möbel? Diese kunstvollen Geräte? Diese kostbaren Waffen? Soll das alles verschwinden? Nicht mehr geschaffen werden, weil niemand da ist, der es kaufen, und bald wohl auch keiner, der es genießen kann? Wir trösten uns dann wohl mit dem Gedanken an das Altertum, als die Privatwohnungen klein und das Privatleben ärmlich, die öffentlichen Gebäude prächtig waren, und das Volksleben auf den Märkten, in den Theatern, bei den Festspielen in großen Wogen ging. Mag sein, daß es 220 so kommt: über diese ganz intime, entzückende Welt wäre doch das Todesurteil gesprochen und –

Sie brach kurz ab, auf Wilfried fest ihre klaren Augen heftend.

Warum sprechen Sie nicht weiter? fragte er.

Ich war nicht ganz sicher, ob Sie es wohl hören könnten, ohne mir zu zürnen. Verzeihen Sie! Ich wollte sagen: und über Existenzen, wie die Ihre.

Sie trauen mir nicht zu, daß ich mich ohne dies Brimborium behelfen könnte?

Ich traue Ihnen alles mögliche Gute zu. Aber dies ist für Sie kein Brimborium. Dies ist die Umgebung, in die Sie hinein, für die Sie geboren sind. Ist Ihr zweiter Körper, Ihnen so fest angewachsen, wie die Haut, aus der Sie nicht, aus der kein Mensch herauskann. Und ich gehe noch weiter: ich möchte Sie in keiner anderen Umgebung sehen. Eine Proletarierwohnung, ein ärmlich ausgestattetes Zimmer nur würde Ihnen stehen, wie dem Wüstenlöwen der Menageriekäfig.

Das heißt, wenn ich Sie recht verstehe: Sie geben mich auf?

Als zielbewußten Socialdemokraten, ja. Als der muß man nach meiner Überzeugung geboren sein.

Dem Leibe nach? oder der Seele?

Nach beiden. Wer kann sie trennen?

Die Geschichte hat Beispiele, daß Menschen von niedrigster Geburt zu den höchsten Höhen emporgestiegen sind.

Von Königen, die freiwillig von ihrem Thron herabgestiegen, sich im Volke zu verlieren, weiß sie weniger zu sagen.

Aber der König Kophetua heiratete eine Bettlerin.

In der Sage; in der Wirklichkeit der Geschichte würde sich der Herr König wohl anders besonnen haben.

So glauben Sie nicht an die Allmacht der Liebe?

Sie vermag viel, alles nicht.

221 Sie hielten mich nicht für fähig, ein armes Mädchen aus dem Volk zu meinem Weibe zu machen?

Das sage ich nicht. Aber es würde ganz gewiß Ihr Unglück, und kaum minder gewiß das des Mädchens sein.

Auch wenn es von einer Reinheit des Herzens, von einem Adel der Seele wäre, wie –

Sagen wir: Lotte Schulz. Auch dann.

Ihre Wechselrede war immer schneller und erregter geworden; sie hatten sich zuletzt wie zwei Kämpfer gegenübergestanden. Jetzt blickten beide schweigend vor sich nieder. Frau Brandt war die erste, welche die Augen wieder hob. Wilfried war sehr bleich geworden und durch seinen Körper ging ein Beben. Sie trat an ihn heran und ergriff eine seiner herabhängenden Hände, die er ihr mechanisch überließ. Die schlanke Hand war eiskalt.

Mein Freund, sagte sie mit leiser weicher Stimme, ich habe Ihnen sehr weh gethan.

Statt der Antwort kam aus Wilfrieds Brust ein Laut, halb Stöhnen, halb Schluchzen. Dann hatte er sanft seine Hand losgemacht und war sich mit ihr über die Augen gefahren.

Das ist ja Nebensache, sagte er, mit schmerzlichem Lächeln aufblickend. Ihre gute Absicht verkenne ich darum nicht. Sie wollten mich warnen. Jetzt sehen Sie wohl, Ihre Warnung kommt zu spät.

Ich denke nicht, mein Freund, erwiderte Frau Brandt. Sie sind ein Mann; Sie können und werden es überwinden. Ganz offen und ehrlich: es war mir mehr um Lotte, als um Sie zu thun.

Was kann es ihr sein, wenn ich sie liebe?

Die Liebe ist ein fressendes Feuer. Ehe man es sich versieht, steht ein Nachbarhaus in Flammen und – ein junges Menschenherz. Sehen Sie, mein Freund, auch ich habe Lotte in diesen wenigen Stunden lieb gewonnen, sehr lieb, als wäre es eine jüngere Schwester. Versuchen ss222 auch Sie, in ihr eine Schwester zu sehen, die bereits in ihrem jungen Leben unsäglich viel Unglück gehabt hat, und die, wie alle vom Unglück Verfolgten, uns heilig sein muß. Uns beiden, die wir sie hüten und bewahren müssen vor etwas, das furchtbarer sein würde, als alles Frühere. Und nun leben Sie wohl! Kommen Sie bald, recht bald wieder zu mir! Unser nächstes Zusammensein wird weniger stürmisch verlaufen.

Sie war gegangen, Wilfried in einer seltsamen Stimmung zurücklassend. Jetzt, da er seine Liebe einer andern Menschenseele gestanden, schien er sich ihrer erst wirklich bewußt, ihrer froh zu werden, daß er hätte laut aufjubeln mögen. Und doch wieder, wie unklug, sie zu gestehen! Diese Frau würde nun mit Argusaugen über dem geliebten Mädchen wachen; ihm selbst jede Gelegenheit, jede Möglichkeit, sie zu sehen, zu sprechen, klüglich fernhalten und abschneiden.

Aber was wollte er denn? Hatte er auf ihre Gegenliebe gerechnet? Etwas anderes von ihr gewollt und gehofft, als daß sie der Stern sein sollte, der ihn, den Wanderer in der Wüste, führen werde zu der Stätte, wo das Heil geboren war für ihn und alle Menschen?

Aber diese kluge und gute Frau sagte ihm offen ins Gesicht, daß er zu den vielen Berufenen gehöre, die nicht auserwählt sind. Welches Recht hatte sie dazu? Welches war die geheimnisvolle Kraft, die sie sich, dem Pfarrer Römer und wer weiß noch wem zubilligte und ihm absprach?

Dahinter mußte er kommen. Er mußte diese Menschen kennen lernen. Mußte erproben, ob sein Tag von Damaskus nichts weiter gewesen war, als ein Gaukelspiel seiner überhitzten Phantasie.

* * *


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