Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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38 In seiner Freiwilligenzeit, als er nach einem halben Jahr auf einem Übungsritte mit dem Pferde stürzte und den rechten Arm brach, hatte bei der Operation neben dem Oberstabsarzt ein junger Assistenzarzt – ebenfalls Freiwilliger – mitgewirkt, ein angenehmer, etwas derber junger Mann, den er damals freilich nur selten gesehen und dann jahrelang aus den Augen verlor. Bis er ihm vor einigen Monaten in der Nähe seiner Wohnung wiederholt begegnet war und mit ihm Begrüßungen ausgetauscht hatte, ohne ihn anzusprechen. Ihre damalige Bekanntschaft war doch sehr flüchtig gewesen, und der junge Arzt lebte jedenfalls in so völlig anderen Kreisen – weshalb also? Jetzt freilich, wo er auf dem Wege zu ihm war, ihn um eine große Gefälligkeit anzugehen, verwünschte er seine aristokratische Schrulle. Um wie vieles würde ihm der schwere Gang jetzt leichter sein, hätte er zur Zeit ein freundliches Wort riskiert, das schließlich nichts kostete, zu nichts verpflichtete! Überhaupt, bedachte er es recht, so war diese ganze Affaire doch die reine Donquijoterie. Wenn man sich um all das Bedientenvolk kümmern wollte, das durch das Haus gelaufen war! Und diese Sippe Schulz war offenbar das richtige Gesindel und saß in der Patsche, die es gründlich verdient hatte. Der betrunkene alte Schlingel und seine schlumpige Ehehälfte mit den Kammerkatzenmanieren von damals! Und die Bettelbriefe, mit denen sie ihn geelendet! Wenn es nicht der Kinder halber wäre! Der arme blasse Junge – dem er übrigens seinen Schwefelhölzerkasten zu ersetzen nicht vergessen durfte – wie tapfer er sich die Schmerzen verbiß, die jedenfalls sehr heftig waren! Und das Mädel mit den mageren Ärmchen und den brennenden Fieberbacken? Und dann die Große, die Lotte –

Er war plötzlich in seinem eiligen Gange stehen geblieben. Mon dieu, welch' schöne Augen! Freilich er hatte nur einmal in diese Augen gesehen und auch nur für einen Moment: als er sie am Bett des Jungen plötzlich anredete. 39 Vorher und nachher hatte sie die langen dunklen Wimpern, die bis auf die bleichen Backen hinabreichten, nicht gehoben, soviel er sich erinnern konnte. Aber einmal war auch gerade genug, um zu wissen, daß er in schönere schwerlich jemals geblickt. In Augen von solch' fascinierender, feucht schimmernder Tiefe. Unergründlich, wie der See im Walde von Falkenburg der Sage nach sein sollte. Bloß daß der See mit seinem schwarzen Wasser, selbst wenn der Mond darauf durch die Riesenbuchen schien, nur auf der Oberfläche leuchtete, und hier das Licht aus der Tiefe zu kommen schien – der Tiefe der Seele.

Warum sollte das Mädchen keine tiefe Seele haben? Weil ihr Vater ein Trunkenbold ist? Lächerlich! Als ob wir für die Sünden unserer Väter verantwortlich wären! Haben, weiß Gott, an den eignen genug zu tragen!

Wilfried war längst wieder in seinen Schnellschritt gefallen; jetzt gelangte er an das Haus in der Keithstraße, das er suchte. Als die Pforte des schmalen Vorgärtchens hinter ihm zufiel, drehte sich ein Mann nach ihm um, der im Dunkel der Hausthür gestanden hatte und eben den Schlüssel ins Schloß steckte. Das Licht der Straßenlaterne fiel voll in sein Gesicht.

Herr Doktor Brandt! sagte Wilfried herantretend und den Hut ziehend.

Zu dienen? Wollen Sie zu mir? Graf Falkenburg, wenn ich nicht irre?

Ja, Herr Doktor. Ich habe einen armen Jungen, der in der Bellevuestraße von einem Radfahrer umgeworfen war, aufgesammelt und zu seinen Eltern gebracht – hier in der Nähe – in der Wichmannstraße. Die Leute haben keinen Arzt, und die Verletzung des Jungen scheint mir nicht ganz gefahrlos. Dazu habe ich in der Wohnung – Kellerwohnung nebenbei – ein anderes Kind der Leute entdeckt – Mädchen von dreizehn Jahren etwa – das schon seit drei Tagen oder so bewußtlos daliegt, wie die Mutter mir sagte.

40 Doktor Brandt hatte, während Wilfried berichtete, die Thür aufgeschlossen, ihn mit einem sanften Druck auf den Flur genötigt, ein Licht, das dort bereit stand, angezündet und sagte mit einem freundlichen Lächeln:

Für den Anfang ist das ja ganz genügend. Ich will mit Ihnen gehen. Nur müssen Sie mir verstatten, daß ich mich wasche und umziehe. Ich komme von einer schweren Arbeit.

Er hatte den Hut abgenommen, sich den Schweiß abzuwischen, mit dem die breite niedrige, scharfgeprägte Stirn bedeckt war. Das Hemd war auf der Chemisette mit Blut bespritzt, selbst der Kragen hatte ein paar rote Flecke.

Es thut mir unendlich leid – noch dazu jetzt in der Nacht, sagte Wilfried, dem die Situation einem ihm schließlich Fremden gegenüber außerordentlich peinlich war.

Das thut ganz und gar nichts, erwiderte der Doktor einfach. Sie müssen mir nur, wie gesagt, ein paar Minuten Zeit lassen. Ich gehe mit Ihrer Erlaubnis voran.

Auf dem ersten Treppenraum blieb er vor einer Wohnungsthür stehen, durch deren rote Vorhänge ein matter Lichtschimmer kam. Noch bevor er aufschließen konnte, wurde die Thür geöffnet.

Armer Hans, sagte eine klare weibliche Stimme, wie lange sie Dich wieder –

Hinter ihrem Gatten war Wilfried aus dem Dunkel hervorgetreten.

Meine Frau, sagte der Doktor; Graf Falkenburg, alter Bekannter von mir! Muß noch einmal weg, Mieze. Willst Du den Grafen so lange unterhalten! Entschuldigen Sie mich! In zehn Minuten!

Er war eilends in eine Thür gegangen, die in ein erhelltes Zimmer führte. Durch den Thürspalt hatte Wilfried das Ende von zwei nebeneinanderstehenden Betten, einen großen Waschtisch und darüber hängenden Spiegel 41 erblickt. Frau Doktor Brandt öffnete eine Thür auf der entgegengesetzten Seite des Korridors:

Wollen Sie mir folgen! Bitte, Platz zu nehmen!

Es mochte, aus dem mit rotem Plüsch überzogenen kleinen Sopha und den dazu gehörigen Stühlen zu schließen, das Wartezimmer des Doktors sein, das aber am Abend auch zu häuslichen Zwecken benutzt wurde. Wenigstens sah Wilfried neben der niedrigen Studierlampe einen ziemlich umfangreichen Nähkorb, über dessen Rand diverse Herrenstrümpfe hingen, und ein aufgeschlagenes, mit dem Deckel nach oben gekehrtes, voluminöses Buch.

Ich bin in Verzweiflung, gnädige Frau, sagte er, auf einem der Stühle Platz nehmend, Ihren Herrn Gemahl in nachtschlafender Zeit noch einmal derangieren zu müssen –

Das bringt das Metier so mit sich. Darf man fragen, um was es sich handelt?

Sie hatte, während sie so sprach, ohne Hast die Strümpfe in den Nähkorb gelegt, das aufgeklappte Buch bei Seite geschoben und saß nun so, die Hände im Schoß, auf dem kleinen Sofa, Wilfried gegenüber, ihm ohne Spur von Neugier und doch forschend, wie ihm schien, gerade in das Gesicht blickend.

Er gab die gewünschte Auskunft ungefähr, wie er sie eben ihrem Gatten gegeben, nur daß er unwillkürlich auch die Anmut des verwundeten Knaben und die Zartheit des kranken Kindes mit lebhafteren Farben hervorhob. Von den schönen Augen der älteren Schwester sprach er nicht.

Und die Eltern? fragte Frau Brandt.

Wilfried geriet in Verlegenheit. Er durfte doch der Dame mit dem Trunkenbold nicht kommen; und auch die saloppe Mutter schien ihm nicht recht repräsentationsfähig. So versuchte er eine Ablenkung, indem er die Seltsamkeit des Zufalls hervorhob, die ihn in der Frau eine ehemalige Dienerin seines elterlichen Hauses finden ließ.

Und der Mann? fragte Frau Brandt.

42 Das reine Inquisitorium, dachte Wilfried. Sie sollte Vorsitzender in einem Schwurgericht sein.

Der Mann? sagte er, die Achseln zuckend. Ja, gnädige Frau, ich fürchte: der richtige Vautrien – Tafeldecker, glaube ich, und der sich bei seinem Geschäft das Trinken mehr als billig angewöhnt hat.

Die Verführung ist freilich groß, sagte Frau Brandt. Und dazu die häusliche Misère. Womöglich noch erbliche Belastung. Da ist denn der Potator fertig.

Sie sind nicht umsonst die Gattin eines Arztes, gnädige Frau.

Das bin ich in der That nicht, oder gebe mir doch einige Mühe, es nicht zu sein; erwiderte Frau Brandt; abgesehen davon, daß ich zehn Jahre lang Krankenpflegerin war.

Oh! in Ihrer Familie –

In recht vielen Familien: Krankenpflegerin von Beruf.

Dann freilich! sagte Wilfried.

Und bei sich dachte er: nun verstehe ich auch.

Er meinte damit aber die Erscheinung der jungen Frau, in die er sich nicht zu finden gewußt hatte: nicht in das Gesicht mit den feinen, nur für seinen Geschmack unerfreulich scharfen Zügen; das völlig unmodisch an beiden Schläfen glatt heruntergestrichene hellbraune Haar; den puritanerhaft einfachen schwarzen Anzug mit dem ebenfalls recht unmodischen weißen Klappkragen um den schlanken Hals. Und dann der unentwegt gerade, prüfende Blick der grauen Augen unter den wie mit einem Pinsel hingestrichenen schmalen, scharfgeränderten Brauen.

Eine Pause war entstanden, peinlich für Wilfried, während die junge Frau sie nicht zu bemerken schien.

Das heißt: eigentlich jung ist sie nicht mehr; dachte Wilfried; sagen wir: dreiunddreißig.

Er fühlte die Verpflichtung, die unterbrochene Konversation wieder in Gang zu bringen. Das aufgeschlagene 43 Buch – er konnte es bequem mit der Hand erreichen – mochte ihm zum Zweck verhelfen.

Darf man so indiskret sein, sehen zu wollen, womit sich die gnädige Frau in ihren erzwungenen Mußestunden –

Er hatte das voluminöse Buch umgedreht: »§ 446 Problematische Wirkung unterschwefligsaurer Salze bei septischen Blutzersetzungen.«

Fast erschrocken kehrte er das Buch abermals um.

Und das lesen Sie, gnädige Frau! In der Nacht um zwölf!

Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Man muß bei der Lektüre seine Gedanken ein bißchen zusammennehmen, erwiderte sie. Dem ist die Stille der Nacht nicht entgegen. Sie hatten natürlich einen Roman erwartet. Wenn man so viele Romane in Wirklichkeit sich hat abspielen sehen, hält man von den gedruckten weniger. Übrigens scheinen Sie mir doch eben erst ein Kapitel in einem solchen Wirklichkeitsroman angeblättert zu haben. Und ein recht tristes dazu, wenn es auch freilich ebenso alltäglich ist.

Da haben Sie wohl recht, gnädige Frau. Und es hat mich umsomehr interessiert, als ich zum ersten Mal in meinem Leben Gelegenheit dazu hatte.

Sollte das nicht daher kommen, daß Sie der Gelegenheit bis jetzt in Ihrem Leben aus dem Wege gegangen sind?

Wilfried war betroffen. Die Dame hatte ja leider abermals recht. Aber die Bemerkung schien ihm doch aus dem Rahmen einer Konversation zu fallen, die man nur führt, um die Zeit hinzubringen.

Sie hatte offenbar keine Empfindung davon, daß sie etwas Unschickliches gesagt, denn sie fuhr in demselben ruhigen Tone fort:

Ich meine nur, weil, wie ich schon sagte, Unglück, Not, Elend das Alltäglichste von der Welt sind und offen 44 zu Tage liegen, wo man auch an dem Schleier zupft, den darüber zu breiten unsre Civilisation sich müht. Schiller wollte die Menschheit durch die Schönheit zur Freiheit führen. Ein etwas vager Weg, auf dem man meistens nicht weiter als bis zum schönen Schein gelangt. Mit dem es denn allerdings nicht gethan ist, wenn sich freilich unsre Civilisation damit begnügt und sich dabei noch wunder wie groß und herrlich dünkt.

Wilfried fühlte sich auf das seltsamste berührt. Eigentlich wollte er der Frau, die eine so unverblümte Sprache führte, zürnen und ihr die Qualität einer Lady absprechen. Dann aber: Sibyllen, Seherinnen brauchen ja wohl keine Ladies zu sein; und diese seltsame Frau erschien ihm mit jedem Moment mehr in dem Licht einer Sibylle und Seherin. Und die in seiner Seele las, wie sie da vorhin in dem medizinischen Buche gelesen hatte, sich an keinem der harten Worte stoßend, die für ihn ebensoviele unheimliche Rätsel waren.

Verzeihen Sie, sagte sie, sich ohne Hast erhebend. Ich höre unsre Kleine, die mich nötig zu haben scheint. Es thut mir leid, Sie allein lassen zu müssen; aber ich stehe hier unter einer force majeure.

Sie hatte sich durch dieselbe Thür nach dem Korridor entfernt. Wilfried atmete erleichtert auf und wünschte doch, sie möchte recht bald zurückkommen. Die seltsame Frau! So abstoßend und so anziehend! So kühl und so warmherzig! Noch nie im Leben war ihm dergleichen begegnet. Freilich, wenn man sich immer nur mit dem schönen Schein begnügt und der Gelegenheit, das wirkliche Leben kennen zu lernen, sorgsam aus dem Wege geht!

Die Thür wurde wieder geöffnet; es war der Doktor, der rasch hereintrat.

Bitte sehr um Entschuldigung! Es hat doch länger gedauert. Aber wenn es recht schnell gehen soll – dafür stehe ich nun auch zu Diensten. Wo ist denn meine Frau!

45 Die gnädige Frau wollte nach dem Kinde –

Ja so! Das geht dann freilich vor Höflichkeit. Na, Mieze, da bist Du ja wieder.

Sie trug auf einem kleinen Präsentierbrett eine Flasche und zwei Gläser, die sie, an den Tisch gelangt, ohne erst zu fragen, füllte.

Brav, Mieze! sagte der Doktor. Das kommt mir verteufelt gelegen. Und Ihnen, Herr Graf, kann es auch nicht schaden. Prost!

Auf Ihr Wohl, gnädige Frau! sagte Wilfried, sich verbeugend.

So! Na, noch einmal, Robert! Duppelt ritt nich, sagen wir in Pommern. Adieu, Kind! Aber jetzt wird zu Bett gegangen! Verstanden? Das Licht nehme ich wieder mit hinunter. Also, bitte, Herr Graf!

* * *


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