Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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»Liebster Wilfried.

Es wird Dir eine große Freude sein, daß Herr Geheimrat von Bergmann, der soeben von uns geht, Giselas Leiden nicht annähernd so schlimm findet, wie wir gefürchtet hatten. Die Notwendigkeit einer Operation sei völlig ausgeschlossen; eine allerdings etwas langwierige Behandlung des erkrankten Beines mit passenden Bandagen werde radikale Heilung bringen. Brauche ich Dir zu sagen, wie beglückt wir Eltern sind! mit wie viel fröhlicheren Augen das liebe Kind selbst heute wieder in ihr junges Leben blickt!

Und warum ich Dir das jetzt schreibe, anstatt die erfreuliche Kunde bis zu unserm Wiedersehen, wie wir es gestern verabredet hatten, aufzusparen? Ach, liebster Wilfried, dies Wiedersehen wird nicht stattfinden! Giselas Behandlung kann nicht hier in Berlin vor sich gehen. Der Herr Geheimrat schickt Patienten, wie sie, ein für allemal nach Göggingen (bei München), wo ein Mann Vorsteher einer orthopädischen Anstalt ist, der, von Haus aus einfacher Bandagist, ein Genie in seinem Fache sein muß, da der Herr Geheimrat ein solches Vertrauen zu 358 ihm hat, und ihn für den Einzigen erklärt, der das für den Fall Passende zu finden und zu konstruieren weiß. Und der Herr Geheimrat dringt darauf, daß wir keinen Tag und keine Stunde verlieren. So soll denn unser Aufenthalt hier, den ich auf Wochen veranschlagt hatte, schon heute zu Ende sein, und die Stunde, in der wir uns wiedersehen wollten, wird uns in Begriff finden, abzureisen.

Und warum wir uns dennoch nicht wiedersehen, persönlich von einander Abschied nehmen können? Fragst Du es wirklich? Ach, wäre der gestrige Abend nicht gewesen! Ich meine: wäre er verlaufen, wie Dagobert und ich es so heiß gewünscht, so zuversichtlich gehofft! Hättet Ihr Brüder, die Ihr einander so innig liebt, Euch verständigt, in Eintracht gefunden, anstatt in Hader und Zwietracht zu trennen! Nicht für immer! Davor sei Gott! Er wird mein heißes Gebet erhören und Eure Geister zusammenführen, wie Eure Herzen sich ja nicht geschieden haben, niemals scheiden können. Aber für den Augenblick ist es meine Überzeugung: es wird Euch eine peinliche Stunde ersparen, wenn Du uns vor unsrer Abreise nicht noch einmal aufsuchst. Einer würde von dem andern das Bekenntnis erwarten, daß er sich geirrt habe, zu weit gegangen sei: beide würdet Ihr Euch in dieser Erwartung getäuscht sehen und jeder den Schmerz der Wunde, die ihm der Bruder geschlagen, nur um so brennender fühlen. Und, Wilfried, wie Du der jüngere bist, so ist Deine Widerstandskraft auch größer; daß Dagobert sich auf die seine nicht verlassen kann, dafür hat die vergangene Nacht den traurigen Beweis geliefert. Er hat mir auf das strengste verboten, es Dir gegenüber zu erwähnen – eine wie folgsame Gattin ich auch sonst mich nennen darf, hier muß ich ungehorsam sein. Trifft Dich doch nicht im eigentlichen Sinne eine Schuld; ist Euer Zwist gestern abend, den Du gewiß so gern vermieden hättest, doch nur die Gelegenheitsursache gewesen, daß jenes Herzübel, von dem, wie Du Dich erinnern wirst, bei Dagobert vor drei Jahren die 359 ersten Symptome hervortraten, und das wir dann gänzlich gehoben glauben durften, sich wieder eingestellt hat. Zu haben scheint, behauptet Dagobert, hier – wie Ihr Männer es ja leider in solchen Fällen zu sein pflegt – völlig unräsonnabel und unträtabel. Konnte ich ihn doch nicht einmal bewegen, sich von dem Herrn Geheimrat, der es gewiß gern gethan hätte, untersuchen zu lassen! Unser guter Doktor Müller zu Hause, der damals von einem organischen Fehler nichts wissen wollte, und dem Dagobert in Giselas Fall so gar kein Vertrauen schenkte, war in dem seinen auf einmal wieder durchaus kompetent! Nun, er hat mir wenigstens versprochen, sobald er wieder etwas spürt, einen Specialisten aus Braunschweig kommen zu lassen. Dabei muß ich mich vorläufig beruhigen. Aber die Reise nach Göggingen mit Gisela und Miß Lionel und ihre Installation dort ist meine Sache. Da darf er mir nicht hineinreden, nichts dazu thun. Er wird ruhig zu Hause bleiben, auch wenn im Herbst der Reichstag zusammentritt. Halb und halb wenigstens hatte er mir das letztere schon versprochen.

Und, nicht wahr, Wilfried, bis dahin und längst vorher sehen wir Dich in Falkenburg! Bis dahin und längst vorher wirst Du erkannt haben – nicht, wie gut es Dagobert mit Dir meint – das versteht sich von selbst, und wird Dir auch keinen Moment zweifelhaft sein – sondern: wie weitschauend sein Blick in politischen und socialen Fragen ist; und daß es für Dich keine Schande, Dich der Einsicht eines zu fügen, der so viel Erfahrung in diesen Dingen hat! Ich habe keine, gar keine. Aus mir sprechen nur das Herz und die ästhetische Empfindung. Und beide sagen: mein geliebter Schwager Wilfried, der gentleman born and bred, hat ein für allemal mit den Socialdemokraten nichts zu schaffen.

In Liebe und Freundschaft

Margarete.

Hotel Bristol ½12 Uhr.

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