Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Der nicht eben große Raum der Kasse vor dem langen Zahltisch war heute sehr gefüllt. Eine Menge Leute wollte in dieser letzten Abendstunde noch abgefertigt sein. In dem weiten Kontor hinter dem Tisch saßen die Kommis, eifrig schreibend, an ihren Pulten; andere kamen und gingen, Papiere in den Händen, die Feder hinter dem Ohr. Wilfried nahm auf einem Stuhl Platz, den ein Klient, dessen Name eben aufgerufen war, geräumt hatte, zerstreut in das rastlose Treiben blickend, bis seine 94 Aufmerksamkeit sich auf seinen alten Bekannten, den Hauptkassierer, richtete, der jetzt aus seinem Verschlage auftauchte, den betreffenden Kunden abzufertigen, dann wieder in dem Schlupfwinkel verschwand, um abermals aufzutauchen, abermals Pakete von Kassenscheinen, Geldrollen, einzelnes Geld in den Händen. Der junge, sehr schlanke Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, der, auch im Gespräch mit den Kunden, nie die Miene auch nur im mindesten veränderte, seine Fragen stellte, seine Antworten erteilte, in Worten, die stets nur halblaut, klanglos von den Lippen fielen, hatte vom ersten Begegnen ein seltsames Interesse für ihn gehabt, das er fast geneigt war, unheimlich zu nennen. Dabei hatte er nie ein Wort mit ihm gewechselt, außer den wenigen, die unbedingt zu dem Geschäft gehörten; dann eine stumme, abgemessene Verbeugung hinüber und herüber und die Sache war abgethan.

Heute wurde ihm reichlich Zeit, die merkwürdige Erscheinung weiter zu studieren; und plötzlich fiel ihm auf, daß der schlanke, blasse Mann mit dem zarten bleichen Knaben, den er gestern nacht von der Straße aufgelesen, eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Ja, eine große, wenn man von der Differenz des Alters und der Verschiedenheit der Situation absah. Und hatte der Doktor nicht heute morgen erzählt, daß des ältesten der Söhne Schulz, nachdem er vom Vater auf die Straße gejagt, sich ein Verwandter, der Kaufmann gewesen, angenommen habe?

Aber was wollte das besagen? Seine Phantasie war mit den Bildern seiner letzten Erlebnisse angefüllt, und da zwang er alles, auch das Unverfänglichste, in diesen Zusammenhang.

Der ihn festhielt, nur daß es jetzt nicht das des bleichen Knaben war, sondern seiner schönen großen Schwester, deren dunkle Augen doch auch wieder an die des schweigsamen Kassierers mahnten, nicht im Schnitt und Ausdruck, nur in der ungewöhnlich dunklen Farbe, wenn er anders recht gesehen hatte. Es war selten genug, 95 daß der junge Mann die langen, schwarzen Lider hob, und auch dann immer nur für einen Moment.

Während er so vor sich hinbrütete, hörte er plötzlich den Namen Schulz aussprechen. Es war Arthur Bielefelder, der aus den inneren Geschäftsräumen gekommen sein mochte, dem Kassierer einen Auftrag zu geben. Das war mit ein paar Worten geschehen, und der jugendliche Chef wandte sich, wieder in sein Privatbureau zu gehen, als er Wilfrieds, der noch immer auf seinem Rohrsessel saß, ansichtig wurde. Sofort hatte er ihm die Hand über den Zahltisch entgegengestreckt:

Mein Gott, Sie, Herr Graf! und Sie warten, wie es scheint, schon wer weiß wie lange! Sie müssen durchaus erlauben, daß ich selbst Sie bediene. Wieviel, bitte?

Wie peinlich diese Dazwischenkunft auch für Wilfried, an ein Ausweichen war nicht zu denken. Er hätte jetzt doppelt gern eine geringere Summe genannt, schämte sich aber sofort seiner Zaghaftigkeit.

Wenn ich um Fünftausend –

Befehlen Sie in Gold oder Scheinen?

In Scheinen, wenn ich bitten darf.

Augenblicklich! Herr Schulz!

Der Kassierer verschwand in seinem Verschlag, um alsbald wieder aufzutauchen und die geforderte Summe in Tausend- und Hundert-Kassenscheinen auf den Tisch zu zählen. Ein anderer Kommis hatte bereits die Quittung ausgefertigt, die er Wilfried, zugleich mit einer Feder, präsentierte. Wilfried unterschrieb. Das Geschäft war beendet.

Würden Sie noch eine Minute für mich haben, Herr Graf, sagte Arthur Bielefelder, als Wilfried sich ihm nun empfehlen wollte. Nur eine Minute!

Er eilte fort, eine kleine Thür zu öffnen, welche aus dem Vorraum der Kasse direkt in sein Kontor führte, und durch die er nun Wilfried einzutreten bat, ihn auf einen der opulenten Lehnstühle nötigend, die um einen großen, mit grüner Tischdecke behangenen oblongen Tisch standen.

96 Eine Cigarre, Herr Graf? Glaube sie empfehlen zu können.

Wilfried dankte. Er sei noch vor Tisch, pflege da nicht zu rauchen.

Wollen Sie uns die Ehre erweisen? Es wäre zu liebenswürdig. Wir speisen um halb sieben; ich bin hier in zehn Minuten fertig. Mein Wagen hält vor der Thür.

Wilfried entschuldigte sich. Er habe noch einen notwendigen Weg in die Stadt und werde um acht Uhr bei seiner Tante erwartet.

Schade, jammerschade! Aber das bringt mich darauf, weshalb ich mir erlaubt habe, Ihre kostbare Zeit so in Anspruch zu nehmen. Justizrat Berner schrieb uns heute, daß Frau Geheimrat in nächster Zeit eine größere Summe – fünfhunderttausend oder da herum – flüssig gemacht zu haben wünscht. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß die Summe – jede Summe – jeder Zeit zur Verfügung steht. Es handelt sich, glaube ich, um einen Gutskauf?

Ich glaube.

Das hatte so kühl geklungen; aber der Graf war ja immer so unheimlich reserviert.

Möchte um alles in der Welt nicht indiskret sein. Wäre gar nicht auf das Kapitel gekommen; nur Sie wissen ja, Herr Graf, wie gern wir Ihnen und Ihrer Frau Tante dienen. Und da will es der Zufall, daß wir in Westfalen ein paar Güter besitzen – ein paar sehr schöne Güter – die wir – eigentlich der Onkel in Dortmund, der Vater unsrer schönen Cousine, die Sie gestern abend gesehen haben – doch das kommt ja auf eines heraus – wir hatten sie zu einem besonderen Zweck gekauft: hofften, daß eine Zweigbahn, welche direkt in unsern Bergwerksbezirk – was soll ich Sie mit Details behelligen! Enfin, wir möchten sie wieder verkaufen. Für den Käufer der reine Gelegenheitskauf, da wir die Güter – übrigens ein wahrhaft herrschaftlicher Besitz – los sein möchten 97 und infolgedessen einen Preis stellen könnten – verzeihen Sie!

Der Telephonapparat auf seinem Arbeitstische hatte angeklingelt; er war aufgesprungen, horchte ein paar Momente, rief: Kaufen! natürlich! Schluß! und kam zu Wilfried zurück:

So geht das den ganzen Tag – zum Verzweifeln! Also, was ich sagen wollte, Herr Graf: wir könnten einen sehr niedrigen Preis stellen – einen Spottpreis, so zu sagen. Ihre Frau Tante ist eine unserer ältesten und, ohne Übertreibung, besten Kunden. Wir würden Ihnen unter allen Umständen den Vorzug geben.

Sie sind sehr gütig, erwiderte Wilfried, der nur mit halbem Ohr auf die im schnellsten Tempo gesprochenen Worte gehört hatte. Jedenfalls werde ich nicht verfehlen, meiner Tante und dem Justizrat, den ich nebenbei noch heute abend bei ihr zu treffen hoffe, die Angelegenheit vorzutragen. Sie wissen, daß der Justizrat –

Weiß, weiß! Ein vortrefflicher, schneidiger Herr. Bei dem sind Sie in den besten Händen. Ob er freilich gerade viel von landwirtschaftlichen Dingen –

Dafür habe ich dann meinen Bruder.

Durchlaucht, den Fürsten – eine Autorität ersten Ranges! Seine letzte Rede im Reichstag – die Herren Agrarier werden sie sich nicht an den Spiegel gesteckt haben.

Also noch einmal verbindlichen Dank, sagte Wilfried sich erhebend.

Nicht die mindeste Ursache, Herr Graf. Erlaubte mir bereits anzudeuten, wie interessiert wir selbst in der Sache sind. Geschäft ist Geschäft. Stehe selbstverständlich zu jeder weiteren Auskunft gern zu Diensten. Und nicht wahr, Herr Graf, für den Donnerstag – wir dürfen doch mit Bestimmtheit – gut, gut! Meine Damen werden sich diebisch freuen. Und der Herr Graf haben die Güte gehabt, Ihren Herrn Vetter –

98 Ich habe auch, da Sie den Wunsch äußerten, mit Baron Rentlow –

Prächtig! Meine Damen schulden Ihnen eine Lorbeerkrone mindestens. Durch diese Thür, Herr Graf, wenn ich bitten darf! Sie kommen da direkt auf den Treppenflur.

Sie standen an der Thür. Halb wider Willen, fast unbewußt that Wilfried eine Frage, die er bereits während der ganzen Zeit auf der Zunge gehabt hatte:

Könnten Sie mir über die Familienverhältnisse Ihres Kassierers irgend eine nähere Auskunft geben?

Der junge Bankier blickte ihn erstaunt an.

Ich hörte Sie ihn vorhin Schulz nennen. Ich habe kürzlich eine Familie des Namens kennen gelernt, für die ich mich interessiere –

Arthur mußte sich hier ein diskretes Lachen verstatten.

Aber, verehrtester Herr Graf: Schulz giebt es so viele, wie Sand am Meer; im Adreßbuch x Seiten voll!

Gewiß. Es ist ja auch nur die entfernteste Möglichkeit. Sie können mir nichts Bestimmteres über ihn –

Nicht das mindeste. Ich weiß nur, daß er, ehe er vor zwei Jahren zu uns kam, immer nur in den feinsten Häusern, zuletzt bei Bleichröder, gearbeitet hat. Das ist für uns – meinen Papa und mich genug. Um die sonstigen Verhältnisse unsrer Angestellten kümmern wir uns grundsätzlich nicht. Mein Bruder Leo ist leider nicht in der glücklichen Lage. Eine Fabrik bringt das so mit sich. Und ich weiß, welche Unannehmlichkeiten und Scherereien ihm daraus erwachsen. Aber wenn Sie wünschen, so will ich gern zu erfahren suchen –

Auf keinen Fall. Es war wirklich ein thörichter Einfall von mir. Darf ich bitten, mich Ihren Damen zu empfehlen? Es geht Ihrer Frau Mutter nicht besser?

Nicht besser und nicht schlechter. Die alte traurige Situation.

99 Arthur hatte seinen Besuch zur Thür hinaus bis an die Treppe geführt. Während Wilfried sie hinabschritt, war ihm, wie stets, wenn er aus den Bielefelderschen Kontors kam, als habe er ein Gefängnis hinter sich.

* * *


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