Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Jetzt begreife ich alles, sprach Tante Adele bei sich, als Lotte ihr gegenüber auf einem Sessel Platz genommen hatte und der Abendschein durch das offene Fenster auf ihr bleiches Gesicht fiel, aus dem die großen dunklen Augen wie Sterne schimmerten.

Nicht annähernd so schön hatte sie sich das Mädchen gedacht. Und dies war keine gewöhnliche Schönheit, die nur im ersten Moment frappiert. Hier leuchtete durch den 447 berauschenden sinnlichen Reiz eine Seele voll Feinheit und Vornehmheit, die zu ihrem Begleiter einen kraftvollen Verstand hatte.

Tante Adele kannte aus reicher Erfahrung die unwiderstehliche Macht, welche die vollendete Form über sie hatte, und eine große Bangigkeit befiel sie. Diesem Mädchen mußte sie gewähren, was es auch forderte. Und was es fordern würde, war ja klar. Es würde sagen: Nimm mich als Wilfrieds Gattin an und ihn in Deine Gunst zurück!

Sie wollte fragen: Was führt Sie zu mir? und fand nicht den Mut dazu. So saß sie denn stumm da, die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet, damit das Mädchen ihr Zittern nicht sah, wie eine Schuldige vor ihrem Richter, von dem sie in ihrer Ratlosigkeit nur hofft, er werde es gnädig mit ihr machen.

Es konnte keine viertel Minute vergangen sein, seitdem Lotte zu ihr eingetreten war, und Tante Adele dünkte es eine Ewigkeit. Wenn sie doch nur sprechen wollte, dachte sie; dann ist der Bann gebrochen; komme ich erst zu Wort, bin ich doch die Meisterin.

Gnädige Frau

Das hatte noch gefehlt: dieser entzückende Wohlklang der weichen, tiefen Stimme!

Tante Adele löste die Hände im Schoß und machte mit Kopf und Hand ein ermunterndes Zeichen.

Sie können nicht wissen, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, fuhr Lotte fort. Sie müssen glauben: für mich zu bitten. Das ist nicht der Fall. Für mich habe ich nichts zu bitten. Ich gehe morgen mit meinen Eltern und einem kleinen Bruder nach Bremen, von dort nach Amerika, um niemals wiederzukehren.

Mit ihm? rief Tante Adele, welcher der Schreck die Zunge löste.

Lotte schüttelte traurig lächelnd den Kopf.

Nein, gnädige Frau, nicht mit ihm. Ich gehe von 448 ihm, damit er wieder ein freier Mensch wird. Jetzt ist er es nicht. Er hat Lasten auf sich geladen, die furchtbar auf ihn drücken, und unter denen er zusammenbrechen muß, werden sie ihm nicht abgenommen. Ich will sie ihm abnehmen; ich hoffe zu Gott, daß es mir gelingt.

Aber Sie lieben ihn doch? flüsterte Tante Adele.

Mehr als mein Leben, das ich freudig für ihn hingeben würde. Aber damit wäre ihm nicht geholfen. Es würde ihn nur noch tiefer unglücklich machen, da er sich sagen müßte: sie ist um Deinetwillen gestorben; Du hast sie in den Tod getrieben. Ja, ich bin überzeugt: er würde mir in den Tod folgen. Wenn ich ihm durch meine Flucht beweise, daß ich die Kraft und den Mut habe, ohne ihn zu leben – das ist mehr. Daran kann, daran wird er sich aufrichten; sich auf sich selbst besinnen; auf die Pflichten, die er gegen seine Verwandten, vor allem: gegen sich selbst hat. Ich weiß es wohl: es ist da noch anderes, was ihn bestimmt und treibt; aber das hat zum Teil schon seine Kraft verloren und wird sie weiter verlieren, wenn ich ihn verlasse. Denn – er weiß es nicht, ich aber weiß es – die Opfer, die er bringt, er bringt sie doch nur meinethalben; all' das Widerwärtige und Häßliche in dem Leben, das er jetzt führt, er erträgt es nur meinethalben. Darum muß ich gehen.

Sie sind ein edles Mädchen murmelte Tante Adele.

Wieder lächelte Lotte traurig:

Ich bin es doch wohl weniger, als Sie glauben. Ich denke auch an mich. Ich kann es nicht ertragen, ihn so unglücklich zu sehen, und daß das nun so fortgehen soll; er womöglich noch unglücklicher wird. Ich habe schon manchmal geglaubt, wahnsinnig werden zu müssen, nur daß mein Kopf so fest ist. Wie es drüben in Amerika mit mir wird – ich weiß es nicht. Schlimmer wohl kaum. Das ist aber ganz gleichgültig, wenn er nur wieder frei atmen kann. Und, gnädige Frau, da müssen Sie mir helfen. Ich weiß, daß Sie ihn sehr lieb haben, wie er 449 mir auch mehr als einmal gesagt hat, daß er in Ihnen seine zweite Mutter ehrt und liebt. Seien Sie es ihm wieder, wie vorher! Er wird jetzt Trost und Liebe sehr brauchen – gewähren Sie sie ihm! Nehmen Sie seinen armen zerstückten Kopf an Ihre Brust! Lassen Sie sein kummervolles Herz an dem Ihren schlagen, bis wieder Ruhe und Frieden darin einzieht. Ruhe und Frieden!

Sie hatte die letzten Worte kaum hörbar geflüstert. Jetzt saß sie still da, den Kopf gesenkt. Das Abendlicht, dessen milder Schein sie vorhin umspielt, war erloschen. Tante Adele dachte, ob die Schattengestalt der Sorge so wohl vor Faust gekauert haben möchte.

Und dabei fiel ihr ein, daß sie doch unmöglich, wenn das Mädchen die Großmut habe, ihr ihren Wilfried wiederzugeben, ein so kostbares Geschenk ohne irgend eine Gegenleistung entgegennehmen könne. Aber wie dafür das schickliche Wort finden? Das Mädchen in ihrem schwarzen, schmucklosen Kleide, der Anmut ihrer wenigen Bewegungen, der Ruhe, mit der sie sprach, hatte etwas so unsäglich Vornehmes. Der von dem Golde sprechen, nach dem Gretchens Seele drängte – es war unmöglich.

Als ob sie ihre Gedanken erriete, begann Lotte, den Kopf hebend, von neuem:

Wir werden drüben nicht Not leiden. Der Bruder meines Vaters, der uns zu sich nimmt, schreibt, daß er kein reicher Mann sei, aber ausreichend für uns habe. Auch das Geld zur Reise hat er uns reichlich geschickt. Ich werde das an Wil– an den Grafen schreiben. Aber es ist vielleicht gut, wenn er es auch von Ihnen selbst hört. Und nun, gnädige Frau, danke ich Ihnen, daß Sie mich so gütig angehört haben, und wenn er kommt, wie er jedenfalls kommen wird, ihn liebevoll empfangen wollen.

Sie war aufgestanden und blickte sich still in dem prächtigen Gemache um.

Hier wird ihm wieder wohl werden, sagte sie leise vor sich hin.

450 Tante Adele hatte sich ebenfalls erhoben. Sie war erschüttert, wie noch nie in ihrem Leben. Ja, sie hatte durchaus die Empfindung, daß sie zum erstenmale das wirkliche Leben vor sich habe; was sie bis heute dafür gehalten, nur thörichte, wirbliche Träume gewesen seien, deren sich der edlere Mensch schämen müsse. Thränen, ihr sonst völlig fremd, traten ihr heiß in die Augen. In einer Wallung, die sie fortriß, wie ein mächtiger Strom, breitete sie die Arme aus, Lotte an ihre Brust pressend:

Bleiben Sie! bleiben Sie! Es wird auch so gut werden! Wird so erst gut werden!

Sanft, aber entschieden wandt sich Lotte los:

Nein, gnädige Frau, es wird es nicht; kann es nicht. Ich habe alles tausendmal überlegt, auch dies. Glauben Sie mir! Leben Sie wohl! Und sagen Sie ihm: sie war traurig, recht traurig; aber geweint –

Die Stimme versagte ihr, und dann fest und klar, als habe ein mächtiger Wille die Worte geprägt:

– geweint hat sie nicht.

Tante Adele war allein. Wilfried, ihren geliebten Wilfried hatte man ihr wiedergeschenkt. Aber froh war sie nicht des Geschenkes. Sie hätte so gern für das Gefühl, das sie beklemmte, ein Goethesches Wort gehabt und fand keines. Da sagte eine Stimme, die aus Tiefen ihrer Seele kam, in die sie noch nie geblickt:

Es klebt das Blut eines edelsten Herzens daran.

* * *


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