Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Da die drei breiten Glasthüren nach der Veranda weit offen standen, durfte die Gesellschaft aufatmen von der Hitze, die zuletzt recht lästig geworden war. In der würzigen frischen Luft, die den weiten Raum erfüllte, fühlte man sich bereits, wie im Freien, ja, mitten in der schönsten Natur, da die Freskobilder auf den Wänden dem Auge die herrlichsten italienischen Prospekte vorzauberten: hier das offene blaue Meer an der Riviera; dort die melancholische Weite der Campagna; auf der andern Seite den lieblichen Lago maggiore mit der Isola bella und die lachende toskanische Ebene, wie sie sich unter den Blicken des Reisenden hindehnt, wenn der Eisenbahnzug, das Gebirge entschieden hinter sich lassend, zu Thal rollt. Man konnte die trefflichen Schildereien um so besser genießen, als ihre helleren Farben und die Spiegelglätte des parkettierten Fußbodens das Licht der unzähligen elektrischen Birnen weniger einsogen, so daß fast Tagesklarheit zu herrschen schien, die mit dem Dunkel des Gartens, trotzdem auch er festlich beleuchtet war, einen seltsam fesselnden Kontrast bildete.

In dem Gewühl der kaleidoskopisch durcheinander wirrenden Gesellschaft hatte Wilfried Chlotilden bald aus den Augen verloren. Bis zum letzten Moment hatte zwischen ihnen das beste Einvernehmen geherrscht; noch in dem Ballsaal, als er an sie herangetreten war, ihr gesegnete Mahlzeit zu wünschen, hatte sie seine Hand so lange in ihrer behalten und ihn dabei so starr mit großen weichen Augen angesehen, daß er etwas in Verlegenheit geraten und im Grunde froh war, sie jetzt der Unterhaltung anderer Herren überlassen zu können.

Die Menge in. Saale hatte sich sehr gelichtet. Viele 297 waren auf die breite Veranda hinausgetreten, wo an kleinen Tischen der Kaffee serviert wurde; auch nicht wenige die Stufen in den Garten hinabgeeilt, da die laue Sommernacht zu verführerisch lockte. Wilfried stand im Gespräch mit Professor Erl, dem Schöpfer der Fresken, als er sich am Arm berührt fühlte und, sich wendend, Arthur Bielefelder vor sich sah.

Verzeihung, wenn ich die Herren störe! Ich hätte Ihnen eine Mitteilung zu machen, Herr Graf, zu der ich sonst am Ende nicht komme. Nur eine Minute!

Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.

Arthur führte seinen Gast aus dem Ballsaal wenige Schritte über den Flur in ein Gemach, das bei kleineren Herrendiners als Rauchzimmer benutzt wurde; nötigte ihn in einen der bequemen Fauteuils und sagte, nachdem er ihm aus einer Sammlung offenstehender Kisten eine Cigarre vergeblich angeboten, sich ihm gegenübersetzend, ohne Übergang:

Sie wissen das Malheur, das wir im Geschäft gehabt haben? Nein? Ist es möglich? Freilich, Sie kommen wenig in Geschäftskreise und die Abendzeitungen haben Sie wohl nicht gelesen: unser Kassierer Schulz ist uns heute, vielmehr in der vergangenen Nacht mit anderthalb Millionen durchgebrannt.

Wilfried vermochte die schlimme Nachricht, die ihm so plötzlich kam, nicht zu fassen; er blickte sein Gegenüber mit starren Augen an. Der junge Bankier, der sich den Schrecken, welcher sich auf dem Gesichte seines Gastes ausprägte, in seiner Weise deutete, fuhr mit süffisantem Lächeln in gemacht nachlässigem Tone fort:

Sie brauchen sich deshalb nicht zu entsetzen, Herr Graf. Wir sind glücklicherweise in einer Assiette, daß wir auch schlimmere Coups aushalten können – kaum fühlen, möchte ich sagen. Und unsere Depots sind heute so bombensicher, wie gestern – selbstverständlich.

298 Ich denke daran nicht, sagte Wilfried, sich bemeisternd; nur an das Entsetzliche des Falles.

Es ist wirklich toll – Sie verzeihen, daß ich mir eine Cigarre genehmige – ich lasse drüben noch keine herumreichen, damit die Damen nicht gleich eingeräuchert werden – die Herren können hernach im Garten so viel rauchen, wie sie wollen – einen Tropfen Cognac? keinen Menkow! Martell und Compagnie – die Flasche sechsunddreißig Mark – Chartreuse mit einem Schuß Angostura? Sie sehen, es ist alles hier – nein? Also, was ich sagen wollte: wirklich toll, ganz horribel. Ein Mensch, den man schon drei Jahre hat, honorig behandelt, fürstlich salairiert; dem man volles Vertrauen geschenkt hat – ein solcher abgefeimter Schuft, eine so niederträchtige Kanaille! Aber das kommt von der verdammten Socialdemokratie. Na, Herr Graf, freisinnig sind wir ja alle – wie soll man denn anders sein bei dem Kurs, mit dem wir in die schönste Reaktion hineinsegeln – Börsensteuer, Zunftzwang, Agrariertum – es ist ja heillos. Und wenn der Herr Graf gestern abend –

Lassen wir das doch! sagte Wilfried.

Glauben Sie nicht, daß ich es Ihnen verarge! Ich bin, wie gesagt, freisinnig bis auf die Knochen. Und es kann gar nicht schaden, wenn die da oben – denn die haben Sie doch gemeint, habe ich heute schon den Leuten auf der Börse klar gemacht, die partout wollten, Sie hätten uns aufs Korn nehmen wollen – lächerlich! aber auf den biederen Herrn Schulz zurückzukommen – Sie äußerten vorvorgestern, Herr Graf, Sie kennten und interessierten sich für eine Familie Schulz. Ich lachte noch und sagte: Schulz gebe es zu Tausenden. Und nun denken Sie, dieser Schulz ist ein Sohn aus Ihrer Familie Schulz!

Aber wie können Sie das wissen! rief Wilfried, dem es war, als habe er einen Stoß auf das Herz bekommen.

Wozu hätten wir denn unsere Polizei, Herr Graf! Sie ist ja für gewöhnlich wie ein lahmer Gaul. Diesmal haben 299 wir ihr Beine gemacht. Schon um Mittag alle Fäden in Händen: Eltern – notorische mauvais sujets – Wichmannstraße, heute nach Nettelbeckstraße verzogen –

Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können – ich kann mich dafür verbürgen, daß schon seit Jahren zwischen Ihrem Kassierer und seiner Familie nicht die mindeste Verbindung stattgefunden hat, sagte Wilfried, vergeblich bemüht, seiner Erregung Herr zu werden.

Der Bankier lächelte:

Genau, was die Polizei herausgebracht hat. Seien Sie also ganz unbesorgt, Herr Graf: es wird Ihren Schützlingen kein Haar gekrümmt werden. Ja, verehrter Herr Graf, wenn sich so vornehme Herren solcher Leute annehmen, so was hängen diese Leute selbst an die große Glocke. Und ersparen der Polizei viele Mühe. Habe übrigens selbst den polizeilichen Eifer ein wenig gedämpft, mit Rücksicht auf Sie, Herr Graf.

Wieso: mit Rücksicht auf mich?

Aber, Herr Graf, wir sind doch unter uns! Ich sagte mir: es wird dem Herrn Grafen nicht angenehm sein, wenn man die Recherchen nach der Seite so weit treibt. Viel wird, so wie so, nicht dabei herauskommen. Frage Du lieber den Herrn Grafen selbst. Da wirst Du mehr und Sichereres in fünf Minuten hören, als die Polizei in einem halben Jahre ausbaldowert.

Ich kann Ihnen da beim besten Willen nicht dienen, nur meine Versicherung von vorhin wiederholen.

Hm! Nun, wie Sie wollen, sagte der Bankier, sichtbar enttäuscht. Es hätte den Leuten vielleicht manche Unannehmlichkeit erspart! polizeiliche Vernehmungen pflegen nicht spaßhaft zu sein. Übrigens sind die Leute so ziemlich alle alte Bekannte der Polizei. Besonders eine der jungen Damen, die der Herr Graf bei dem Pfarrer Römer untergebracht hat. Kenne zufällig ein wenig von ihrer Vergangenheit; hat mal als Mädchen in der Fabrik meines Bruders gearbeitet. Aber ich darf den Herrn Grafen nicht 300 länger mit einer Angelegenheit behelligen, die Ihnen noch dazu offenbar unangenehm ist.

Ich kann nicht leugnen, daß sie mich recht peinlich berührt.

Wieder und sehr viel deutlicher als vorher zuckte ein Lächeln über des Bankiers blasiertes Gesicht. In Wilfried kochte es. Aber hier nicht seine Ruhe bewahren, hieß des andern schnöden Verdacht bestätigen. Er stand auf und sagte ruhig:

Wir gehen dann wohl wieder zur Gesellschaft.

Noch einen Moment, sagte der Bankier. Ich wollte dem Herrn Grafen eigentlich nicht damit beschwerlich fallen; bei näherer Überlegung aber – Wir haben heute mittag einen kuriosen Brief von der Frau Geheimrat gehabt. Sie wünscht einen Auszug Ihrer Rechnung vorgelegt – etwas, was sie noch nie gethan hat. Merkwürdiger – nein, offen gestanden, unbegreiflich ist, daß sie den Ihnen bei uns geöffneten unbeschränkten Kredit vom heutigen Tage an für geschlossen erklärt. Da ich ja wußte, daß ich heute abend das Vergnügen haben würde, habe ich das merkwürdige Schriftstück zu mir gesteckt. Ich möchte den Herrn Grafen bitten, einen Blick darauf zu werfen.

Er hatte einen Brief aus der Seitentasche des Fracks genommen, ihn entfaltet und wollte ihn Wilfried überreichen. Und da dieser eine abwehrende Bewegung machte:

Ich möchte wirklich bitten. Das Schreiben ist nicht vom Justizrat, wie durchaus die Regel, sondern von einer uns fremden Hand; nur die Unterschrift, übrigens kaum lesbar, von Ihrer Frau Tante. Der Brief ist freilich von einem Diener der Frau Geheimrat überbracht; indessen die Möglichkeit einer Fälschung – wir Bankiers müssen sicher gehen – und in einer so überaus delikaten Angelegenheit –

Bitte, geben Sie!

Auf den ersten Blick erkannte Wilfried die Handschrift der Frau von Wiepkenhagen, die ihn früher mit widerwärtigem Eifer in eine Korrespondenz mit ihr zu bringen 301 gesucht hatte, bis er ihr endlich, des Geschwätzes müde, unverblümt seine Meinung über ihre entsetzlichen Novellen sagte. Tante Adeles Hand hatte, als sie unterschrieb, augenscheinlich gezittert, aber es war ihre Hand.

Das Schreiben ist zweifellos echt, sagte er, den Brief zurückgebend.

Aber, Herr Graf, das kann doch nur ein Mißverständnis sein!

Und das sich leicht erklärt. Ich hatte meiner Tante geschrieben, daß ich in diesen Tagen eine größere Summe abgehoben habe, und auf längere Zeit versorgt sei. Warum sie Ihnen wiederum davon Mitteilung machen zu sollen gemeint hat und in dieser unzutreffenden Weise, weiß ich nicht.

So wird es sein, natürlich! So muß es sein, erwiderte Arthur, dessen Gesicht sich wieder aufgehellt hatte. Übrigens, Herr Graf, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Sie bei Bielefelder und Sohn eventuell Kredit ad libitum auch ohne Kreditbrief haben. Du liebe Zeit, wenn alle Welt uns so sicher wäre! Ihnen würde ich unsere westfälischen Güter ohne einen Pfennig Anzahlung verkaufen. Wie wär's, wenn wir den Handel auf der Stelle abschlössen? Ihr Wort genügt.

Damit wollen wir denn doch lieber warten, bis das Mißverständnis mit meiner Tante aufgeklärt ist.

Aber das spielt ja keine Rolle. Und nicht wahr, Herr Graf – möglich ist ja alles: wenn Sie bei der – bei dem – sagen wir Interesse, was Sie an der bewußten Familie nehmen, etwas über den Aufenthalt des Schulz in Erfahrung bringen sollten, und uns einen Wink geben wollten – nur einen Wink – was wünschen Sie?

Ein Diener war eingetreten mit einer Empfehlung von Frau Kommerzienrat an den Herrn Grafen: die Frau Kommerzienrat habe gehört, daß der Herr Graf in der Gesellschaft sei, und ob der Herr Graf Zeit habe, auf ein Viertelstündchen zu ihr zu kommen?

302 Ich werde der gnädigen Frau sofort aufwarten, beschied Wilfried den Diener.

Sehr wohl, Herr Graf.

Der Mann war gegangen.

Sie werden doch nicht im Ernst! rief Arthur. Es ist ja sehr schön von Ihnen, daß Sie so freundlich zu der armen Mama sind; aber es soll jetzt getanzt werden, und wir rechnen auf alle unsre jüngeren Herren. Mama kann schon bis morgen warten. Darf ich den Diener –

Auf keinen Fall. Die Gesellschaft wird mich nicht vermissen. Ich komme ja auch wieder.

Na! dann aber möglichst schnell. Herr des Himmels, da geht es schon mit dem Tanzen los! Ich muß machen – also auf Wiedersehen!

Die letzten Worte waren bereits auf dem Flur gesprochen. Arthur eilte in den Ballsaal, aus dem die rauschenden Klänge eines Rheinländers erschallten; Wilfried stieg langsam die breite, mit Plüschläufern belegte Marmortreppe hinauf, die in den obern Stock zu den stillen Zimmern leitete, welche die Dulderin seit so vielen Jahren nicht mehr verlassen hatte.

* * *


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