Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Für den nächsten Sonntag war ein Sommerfest der Genossen mit ihren Frauen angekündigt. Bereits um sechs Uhr morgens sollten zwei Dampfschiffe von der Jannowitzbrücke nach Grünau abgehen; es war aber auch freigestellt, die Ringbahn oder Pferdebahn zu benutzen, wenn, wie voraussichtlich, die Schiffe den Andrang der Teilnehmer nicht würden bewältigen können.

Lotte erschrak auf das äußerste, als Wilfried ihr am Sonnabend sagte, daß er das Fest mitmachen wolle. Er in dieser Gesellschaft, in die er nicht gehörte! in der tausendköpfigen, lärmenden Menge, er mit seinen feinen Nerven, die jedes laute Geräusch beleidigte! Sie bat ihn dringend und immer dringender, von einem Vorhaben abzustehen, dessen Ausführung ihm nichts eintragen werde als Enttäuschung und Verdrießlichkeit, vielleicht noch Schlimmeres.

Sonst brauchte sie keinen Wunsch auszusprechen, weil er ihr ihn von den Augen ablas; hier waren ihre Vorstellungen, ihre Bitten vergeblich. Sie machten ihn nur ungeduldig, zuletzt gereizt, fast heftig, wie sie ihn nie gesehen.

Du wenigstens solltest nicht, wie die andern, an meiner Aufrichtigkeit zweifeln, in all meinem Thun nur eine Komödie sehen! Daß andre es leichter haben, als ich, Socialdemokrat zu sein, das weiß Gott. Und ›zu sein‹ ist nicht das Richtige. Ich bin es, bin es aus voller Überzeugung; nur der Schein ist gegen mich. Er steht mir im Wege, macht, daß man mich nicht als vollberechtigt, als seinesgleichen anerkennen 429 will. Bliebe ich morgen fort, würde es wieder heißen: da haben wir's! Wir sind für den Herrn Grafen zu gemein; er ist und bleibt der Salonsocialist, wie man ihn in seinen Kreisen nennt! Sieh, Lotte, ich weiß nur zu gut, fühle nur zu peinlich, wie wenig ich der Partei leiste. Aber eines kann mir doch so leicht keiner nachmachen: als ein Graf unter sie zu treten, der nicht ein Deut mehr sein will, als sie. Und damit ein Opfer bringt, dessen Größe sie freilich nicht würdigen können, das aber doch vielleicht nicht umsonst gebracht wird. Weil es die stutzig macht, die aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit schreckt, zu denen er durch die Geburt gehört, und die hochmütig wähnen, daß diese Geburt sie ein für allemal von den andern Menschenkindern scheidet. Wenn auch nur einer von uns den Mut hat, dies stupide Vorurteil zu überwinden, den starren Bann zu brechen – Du kennst die Geschichte von Arnold Winkelried nicht. Ein Bauer, der in der Schlacht, als sie die eiserne Mauer nicht niederwerfen konnten, so viel Ritterspeere, wie seine Arme faßten, sich in die Brust stieß, rufend: ich will der Freiheit eine Gasse machen! – Das will auch ich. Und wenn man des Bauersmanns That durch die Jahrhunderte rühmt, die des Edelmanns ist nicht geringer. Er opfert, was Tausenden höher gilt, als das Leben.

In Wilfrieds Augen, während er so sprach, ging durch das Feuer, von dem sie leuchteten, ein Flackern, das Lotte nur zu gut kannte. Es war immer da, wenn er von seinen socialdemokratischen Pflichten redete. Und das sie sich längst gedeutet hatte: er möchte ja so gern an das alles glauben und – er thut es nicht.

Gut denn, Wilfried, sagte sie; aber Du mußt erlauben, daß ich Dich begleite.

Um Himmels willen! murmelte er, während das Feuer in seinen Augen jäh erlosch.

Du willst den Genossen beweisen, daß Du zu ihnen gehörst, fuhr sie fort; sie bringen alle ihre Frauen, Schwestern, 430 ihre Bräute, ihre Liebsten mit. Er läßt seine Braut zu Hause, werden sie sagen; warum thut er das? Dann wird es dasselbe Gerede geben, das Du doch gerade vermeiden willst.

Du hast recht, sagte Wilfried; bist, wie immer, mein tapferes, kluges Mädchen. Wir gehören zusammen, hier und überall. Also auch in Grünau. Ich kenne es freilich nicht und stelle es mir nicht gerade als ein Paradies vor. Mit Dir wird es mir eines werden.

Auf den Lippen das liebe Lächeln, in dessen bloßer Erinnerung Lotte stundenlang schwelgen konnte, hatte er sie geküßt und war hinüber in sein Zimmer gegangen an eine Arbeit für den Vorwärts, die ihn schon seit Tagen beschäftigte.

Lotte blickte ihm mit trüben Augen nach. Was er da von dem Bauer gesagt, der sich die Speere in die Brust stieß und all das andre – sie hatte kaum darauf gehört; nur die eine Furcht, den einen Gedanken gehabt: es droht ihm da sicher etwas Schlimmes, das Du abwenden kannst, wenn Du dabei bist.

Der Vater kam nach Hause; Lotte sagte, daß sie morgen nun doch mit Wilfried nach Grünau fahre.

In Teufels Namen! brauste er auf.

Und als er ihre großen erschrockenen Augen sah:

Na, na! Es ist so bös nicht gemeint. Du kannst ja nichts für seine Grapsen. Lange kann es ja so wie so nicht mehr dauern. Dann ist es aus mit dem Mumpitz. Dann kommen andere Zeiten für Hermann Schulz. Der hat einen Bruder in Amerika. Der heißt Philipp Schulz. In Chicago. Verstehst Du? Chicago!

Seine Zunge lallte. Schon ein paarmal war er, seitdem die amerikanische Angelegenheit spielte, so nach Hause gekommen. Wenn die mit fieberhafter Ungeduld von ihm erwartete Nachricht ausblieb; nicht so lautete, wie er sie sich träumte – Lotte wußte es: dann war das alte Elend 431 wieder da. Dann war der kurze Glückstraum bis auf den letzten blassen Schimmer verträumt.

Und dann wollte sie nicht weiter leben.

Vielleicht war ihr Tod die einzige Möglichkeit, ihn wieder frei zu machen –

Schon lange trug sie sich mit diesem Gedanken –

Sie hätte ihm nur so gern den Kummer erspart –

* * *


 << zurück weiter >>