Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Frau von Wiepkenhagen faltete vorerst einmal das Zeitungsblatt möglichst geräuschlos zusammen, steckte es zu der Kreuzzeitung in die Tasche, überlegte eine halbe Minute lang, welchen Fortgang die Sache jetzt zu nehmen habe, stellte sich vor Tante Adele hin und sagte, ihr gelassen die Hände vom Gesicht ziehend:

Und was gedenken Sie jetzt zu thun?

Raten Sie mir! helfen Sie mir! wimmerte Tante Adele, mit schwimmenden Augen zu der ragenden Gestalt der Freundin aufblickend.

Ich habe keinen andern Wunsch, erwiderte die Novellistin; muß aber fürchten, daß Sie sich nicht raten und helfen lassen wollen; Ihr allzuweiches Gemüt immer die Kraft zur Ausführung dessen, was Einsicht und Vernunft gebieterisch fordern, paralysieren wird.

Ich kann ihn nicht fallen lassen. Ich kann nicht.

266 Wie wollen Sie jemand halten, der in sich selbst so gänzlich haltlos ist? Verlangen Sie noch stärkere Beweise? Nicht genug, daß er ein gutes, liebenswürdiges, ihn innig liebendes Mädchen treulos im Stich läßt und kein Gefühl hat für den Schimpf, den er so über die Familie bringt – er bricht die Treue auch seinem König, die doch jedem wahren Edelmann tief ins Herz gepflanzt ist. Wir Wiepkenhagen sind arme Leute – ein Verräter an seinem König ist nicht unter uns.

Ich würde ihm ja alles verzeihen, murmelte Tante Adele, aber daß er mir unsre Goethe-Abende so grausam zerstört hat –

Das geht so in einem hin, meine Beste. Vielmehr, es hängt eines mit dem andern aufs engste zusammen. Wie kann der Socialdemokrat, als der er sich jetzt entpuppt hat, ernsthaft an die Verbindung mit einem Mädchen wie Ebba denken, die das tip-top aristokratischer exklusivester Feinheit und Bildung ist? wie für Goethe das rechte, oder überhaupt nur Verständnis haben? Freilich, meine Liebe, Sie sind sehr zu beklagen. Ich darf heute sagen: ich freue mich, daß mir der Himmel keine Kinder beschieden hat. Es muß furchtbar sein, einen Muttermörder zum Sohn zu haben –

Hier blickte Tante Adele erstaunt auf. Die Novellistin, die den Unsinn ihrer letzten Phrase gar nicht bemerkte, fuhr, sich in immer größeren Eifer hineinsprechend, fort:

Ja, einen Muttermörder! Bedenken Sie, Beste! Kinderlos, aus einstmals reichsfreiherrlichem Geschlecht, voll höchster Aspirationen, von den Musen angelächelt, einem Manne vermählt, der Ihnen nichts zu bieten hatte, als seinen Reichtum, wollten Sie sich in dem Neffen einen Sohn erziehen, der alles das besitzen und darstellen sollte, was Ihnen das Schicksal versagt, um was Sie das Glück getäuscht hatte. Das habe ich ja aus Ihrem eigenen Munde. Und dies nun ist die Erfüllung Ihrer Träume; der Lohn für so unendliche Liebe, Sorge, Mühe! Sie sagen, Sie 267 können ihn nicht fallen lassen, ihn von sich stoßen, den Abtrünnigen, den Verräter. Wollen Sie sich in seinen Sturz verwickeln? die einzig hohe Stellung, die Sie bisher in der Gesellschaft eingenommen haben, aufgeben? für die Bewunderung, das einstimmige Lob, mit denen man Ihnen bis heute huldigte, kopfschüttelnde Verwunderung, einmütigen Tadel eintauschen? Ich, Ihre beste Freundin, kann nicht mehr thun, als Sie warnen. Ich habe Sie gewarnt.

Frau von Wiepkenhagen hatte ihre mächtige Gestalt vom Divan aufgehoben und den Hut mit den übermäßig breiten Rändern und den wallenden Federn, durch den sie ihre berühmte Ähnlichkeit mit dem großen Kurfürsten zu erhöhen suchte, energisch zurechtgerückt. Ein Blick, den sie niederwärts auf ihr Opfer richtete, sagte ihr, daß sie einen vollständigen Sieg nicht errungen. Die Oberlippe mit dem schwarzgrauen Bärtchen zuckte verachtungsvoll. Sollte sie diese schwache Seele sich selbst überlassen? davongehen, ohne dem Menschen, den sie so grimmig haßte, auch nur im mindesten geschadet zu haben?

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der, ausgeführt, den Verhaßten, wenn nicht vernichten, so doch auf das Empfindlichste kränken, in große Verlegenheit bringen mußte, und immerhin der Anfang des herbeigewünschten Endes werden konnte.

Wollen Sie mein letztes Wort hören? sagte sie. Wenn Sie ein Mittel hätten, ihn, von dem Sie, wie ich nun wohl sehe, nicht lassen können, in seinem unsinnigen Rasen nach dem Abgrund zur Besinnung zu bringen; oder – ist das zu viel gesagt – stutzig zu machen, so, daß er in seinem wütenden Lauf inne halten, um sich blicken, über seine Lage nachdenken muß – würden Sie dieses Mittel nicht anwenden?

Wie können Sie fragen, Beste? erwiderte Tante Adele, mit einem Schimmer von Hoffnung in den feuchten Augen aufblickend.

268 Gut. Ihr Neffe hat bei Ihrem Bankier unbegrenzten Kredit?

Den er noch nie gemißbraucht hat. Ich schwöre es Ihnen.

Dennoch lebt er auf dem Fuße eines reichen jungen Mannes. Er ist an dies Leben gewöhnt. Diese Gewöhnung ist ihm süß. Es wird dem Menschen schwer, von einer süßen Gewohnheit zu lassen.

O, Egmont! Egmont! seufzte Tante Adele.

Hätte Margarete von Parma ihn um einen so billigen Preis retten können!

Welcher ist es? Ich flehe Sie an!

Sperren Sie Ihrem Neffen jenen Kredit! Geben Sie Ordre, daß sein Konto von heute ab geschlossen ist!

Bis auf weiteres, meinen Sie doch?

Frau von Wiepkenhagen meinte das gar nicht, hielt aber für geraten, hier eine vorläufige Konzession zu machen.

Sagen wir: bis auf weiteres. Bis er eben zur Besinnung gekommen ist; sich darauf besonnen hat, was alles er Ihnen verdankt; daß er Ihnen alles verdankt. Glauben Sie mir: wenn Goethe sonst immer recht hat, darin nicht, daß der Mensch alles ertragen kann, nur nicht eine Reihe von lauter guten Tagen. Die erträgt er schon; aber nicht die schlechten.

Ich soll ihm schlechte Tage machen? Ihm?

Sie ist positiv in den Menschen verliebt, dachte Frau von Wiepkenhagen. Ich könnte sie ohrfeigen.

Liebes – Kind, hätte ich beinahe gesagt – die Reihe der schlechten Tage wird nicht lange währen. Nicht eine Woche. Dann kommt er und sagt: vergieb mir!

Tante Adele atmete auf. Das Ziel, das sie aufs innigste wünschte, war ihr so nahe gerückt! Sie sah bereits den geliebten Knaben zu ihren Füßen, in ihren Armen. Und wieder kam ihr ein Bedenken!

Wie soll ich einen so – so bedeutenden Schritt dem Bankhause motivieren?

269 Gar nicht. Wer wird mit diesen Leuten noch große Umstände machen? Sie wollen es, Sie befehlen es – basta!

Es wird Frau Bielefelder zu Ohren kommen!

Die schweren Augenbrauen der Novellistin zogen sich drohend zusammen. Wieder ein verhaßter Name!

Daß Sie die Kette dieser Jugendfreundschaft so weiter durchs Leben schleppen!

Ja, es ist eine Kette, eine schwere. Ich weiß ja, daß es unrecht ist. Aber ich kann keine kranken verkrüppelten Menschen sehen.

Der wahrhaft ästhetische Mensch hat dies Recht. Es geht mir nicht anders. Darüber dürfen Sie sich keine Skrupel machen. Sie schreiben noch heute an den Bankier?

Wenn Sie so darauf dringen. Und es für sein Bestes halten –

Sein Allerbestes. Das Einzige, was ihm und Ihnen Rettung bringen kann. Kommen Sie!

Und sie hatte Tante Adele an der Hand ergriffen.

Was soll ich?

Auf der Stelle die paar Worte schreiben. Frisch gewagt ist halb gewonnen, sagt der Meister.

Es gab für Tante Adele den Ausschlag. Sie durfte es thun mit dem Segen Goethes!

Frau von Wiepkenhagen, die hier überall Bescheid wußte, war bereits an den Rokoko-Schreibtisch in der tiefen Fensternische getreten, hatte die Mappe geöffnet, ein Blatt zurecht gerückt, die Feder eingetaucht, und hielt sie nun Tante Adele, die zögernd herankam, entgegen.

Es geht sonst alles durch den Justizrat, sagte Tante Adele zaghaft.

Um so größere Wirkung wird es machen, wenn er hört, daß es direkt von Ihnen kommt.

Sie sehen, Liebe, wie meine Hand zittert!

Lassen Sie mich! Ich habe keinen Justizrat, brauche 270 auch keinen; besorge meine kleinen Angelegenheiten selbst. Sie haben dann nur Ihren Namen darunter zu setzen.

In ihrer großen Handschrift hatte sie schnell die wenigen Zeilen hingeworfen und reichte Tante Adele die Feder zur Unterschrift.

Bitte, erst lesen!

Tante Adele vermochte es nicht. Es flimmerte ihr vor den Augen. Mit bebender Hand kritzelte sie unter das Schriftstück ihren Namen.

Frau von Wiepkenhagen that den Brief in ein Couvert, und versah es mit der ihr wohlbekannten Adresse des Bankiers.

So!

Sie ging mit dem Briefe in der Hand nach der elektrischen Klingel und wartete dort, bis Mathis erschien.

Dieser Brief muß sofort besorgt werden, Mathis; nicht durch die Post, direkt. Sie haben jemand zu schicken?

Gewiß, gnädige Frau, erwiderte Mathis; einen Blick auf die Adresse werfend. Ist eine Antwort?

Nein.

Zu Befehl.

Über des Kammerdieners graues Gesicht huschte ein schadenfrohes, diskretes Lächeln. Nach allem, was er gehört, erlauscht, bei sich kombiniert, mit Frau Wenzel diskutiert, hätte er schwören mögen, daß dieser Brief für den jungen Herrn Grafen nichts Gutes bedeutete.

Frau von Wiepkenhagen wandte sich zu Tante Adele, die, am Schreibtisch stehend, mit starren Augen die Scene an der Thür beobachtet hatte.

Jetzt, meine Liebe, nachdem das unumgänglich Notwendige gethan, wird wieder Ruhe in Ihr verstörtes Gemüt einziehen. Je schwerer dieser Entschluß für Ihr weiches Herz, um so mehr Ursache werden Sie später haben, ihn zu segnen. Für jetzt leben Sie wohl! Ich frage heute abend noch einmal nach. Und daß am nächsten 271 Montag das Kränzchen zusammen kommt, dafür lassen Sie mich sorgen.

Sie hatte Tante Adele auf die Stirn geküßt und rauschte mit großen Schritten zum Salon hinaus.

Tante Adele war, kaum daß die Freundin sie verlassen, an einen der großen Pfeilerspiegel zwischen den Fenstern getreten. Sie mußte durchaus wissen, welcher von Goethes Frauengestalten sie in diesem bedeutenden Augenblicke glich. Von Gretchen, Klärchen, Marianne konnte nicht die Rede sein; das waren tempi passati, wie sie sich oft seufzend eingestand. In letzterer Zeit hatte sie die Prinzessin Leonore und Iphigenie bevorzugt. Aber auch sie wollten für die Situation nicht recht passen. Der Hofmeisterin aus der Natürlichen Tochter? Das war's! Sie hatte sie schon vorhin citiert!

Einiges Nachsinnen brachte ihr glücklich Verse in Erinnerung, die ihr in den ersten Jahren ihrer Ehe gelegentlich einer unglücklichen Neigung zu einem liebenswürdigen Verräter sehr geläufig gewesen waren.

Und die Augen auf ihr Spiegelbild gerichtet, sprach sie in sanftem Klageton:

                                      Bin ich nicht
Mir auch ein Rätsel? Daß ich noch an Dir
Mit solcher Neigung hänge, da Du mich
Zum jähen Abgrund hinzureißen strebst?
Warum o! schuf Dich die Natur von außen
Gefällig, liebenswert, unwiderstehlich,
Wenn sie ein kaltes Herz in Deinem Busen,
Ein glückzerstörendes zu pflanzen dachte!

Sie schmachtete ihr Konterfei noch ein paar Sekunden an, klingelte nach Mathis und befahl, daß angespannt werde. Goethe hatte immer sein ungeberdiges Herz am Busen der Natur zur Ruhe gewiegt. Sie wollte in den Tiergarten. Und Ebba dazu abholen! Unter dem Schattendache der hehren Eichen wollte sie die Ärmste, die Verlassene über den ersten brennenden Schmerz wegzutäuschen 272 suchen und über die herbe Wahrheit, daß nicht alle Blütenträume reifen.

* * *


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