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Er konnte nicht nach Hause

Der kleine, bleiche Knabe,
Der täglich unterm Fenster
Vor jenem stillen Landhaus
So munter auf dem Rasen
Mit Ball und Reifen spielte,
Heut' liegt er da in einem engen Sarge,
Heut' liegt er da in Blumen,
Die Hände sind gefaltet
Und halten eine weiße Rose.

Doch seltsam! Seine tiefen Träumeraugen,
Die teuern, blauen Augen,
Kann er nicht schließen und sie schaun ins Leere
Mit schmerzlich stummem Vorwurf.
Die Mutter schloß sie, weinend wie Maria,
Der Vater schloß sie, tief vom Leid getroffen,
Allein umsonst, sie schaun ins Leere,
Die teuern, blauen Augen
Mit schmerzlich stummem Vorwurf.

Und warum starb der bleiche Knabe?
Das sagt dir nicht der Vater, nicht die Mutter.
Sie wissen's selber nicht, und auch der Arzt
Erriet es nicht – der Knabe starb nur darum,
Weil er nach Hause nicht gekonnt.
Er war gewohnt, der Wärtrin zu entlaufen,
Allein nach Haus zu finden,
Allein die Treppen aufzuklettern,
So, wie ein großer Mensch; es macht' ihm Freude,
Daß er allein nach Hause traf.
So that er auch an einem kalten Tage,
Als sich der düstre Nebel
Wand durch die Gassen und die Lampen
Im Winde bebten, auf dem glatten Pflaster
Ausglitt der Großen Fuß, und jeder,
Der konnte, schnell nach Haus schlich.
Auch diesmal lief voraus er, fand auch diesmal
Ganz gut das Haus. Doch wehe!
Das Thor das schwer beschlagne,
War heute abgeschlossen,
Und er zu klein, die Glocke zu erreichen.
Er wartete, indes der Wind durch Gassen
Und Gärten Pfiff und mit den Lampen klirrte.
Er wartete und wartete gar lange,
Dann fing er an zu weinen, leise erst,
Dann laut und unaufhörlich ...

Doch niemand kam durch diese stille Gasse
Und niemand kam vom Hause, drin sein Weinen
Man nicht gehört. Der Wind, der heulte
Und trieb die Flocken Schnee ihm auf die Wangen,
Wo sie zerflossen in den bittren Thränen...

Dann kam die Wärterin, es war zu spät schon.
Vor Freude schwieg er und verriet kein Wort,
Doch bald erkrankt' er drauf in schwerer Krankheit
Der er erlag.
Allein die blauen Augen,
Die tiefen, teuern Augen,
Die schloß er nicht, die starren in die Ferne
Auch aus dem Sarg, als wollten
Sein Leid sie allen in die Herzen graben,
Die fromm hier beten,
Die her die Blumen bringen,
Als wollte Vater er und Mutter sagen,
Das er nach Hause nicht gekonnt.

Gewiß am goldnen Thor des Paradieses
Harrt er so lange nicht, und schließen wird er
Unter der Engel Flügel voller Frieden
Die teuern, blauen Augen
Und wird verzeihn, wenn er zu Hause ist,
Daß er nach Hause nicht gekonnt.


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