Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Amarus

Von Jugend auf im Kloster, wußt' er nicht,
Wie er hineingelangt. Weil er ein Kind
Der Sünde war, darum hieß er Amarus.
Groß war er, bleich und immer in Gedanken,
Den Blick gesenkt, als ob ein Unbekanntes
Er unten suchte. Einst sprach er zu Gott,
Als in die Zelle drang des Mondes Silber:
»Für alle Leiden und für all Entsagen,
Für mein verlornes Leben bitte ich
Um eine Gnade, sprich, wann werd' ich sterben?«
Kaum hatt' er's ausgedacht, erschien ein Engel
Und flüsterte ihm zu: »Du stirbst die Nacht,
In welcher du vergißt, mit Öl zu füllen
Die Lampe dort vor dem Altar.« – Und Tage
Und Jahre flohn. Amarus lebte traurig
Und stille fort, und wenn des Öls er zugoß,
So sprach er: »Ich entzünde meine Seele,«
Und lächelte gar trüb. Im Frühling einst
Kam wieder er, die Lampe anzufüllen.
Der Dom war dunkel, nur im Betstuhl sah
Er unter der Madonna Bildnis knien
Zwei Liebende. Er hielt den Atem an.
Als ihr Gebet zu Ende, folgt' er ihnen
Rasch auf den Zehn, seltsame Sehnsucht trieb ihn.
Nun stand er auf dem Klosterkirchhof. Flieder
Erfüllte rings die Luft, berauschend stieg
Der Duft ihm in den Kopf, im Busche sang
Ein Vogel und zwei Schmetterlinge flogen
Behend um ihn, als wären Apfelblüten
Lebendig worden – und er ging und ging.
Auf einem Grab, das, schon dem Rasen gleich,
Verschwand im Wald des blühenden Hollunders,
Da setzten nieder sich die beiden: er,
Das Haupt auf ihrem Busen; in ihr Haar,
Das schwarze Haar, warf reichbethaute Blüten
Der Flieder, und der Vogel sang und tändelnd
Nahm Platz ein Falterpaar auf ihren Locken.
Und seiner Mutter dachte jetzt Amarus,
Die er nicht kannte, der er danken sollte
Für dieses bittre Sein – es sang der Vogel,
Der Flieder duftete, der Thau erblitzte:
Heut nährte seine Lampe nicht Amarus,
Er stand und stand und immer sang der Vogel.

Am nächsten Tage, als zur Hora gingen
Des Klosters Brüder, fanden sie erloschen
Das ewige Licht. Amarus nicht zu finden.
Dort auf des Kirchhofs lang verfallnem Grab
Lag tot er, auf dem Grabe seiner Mutter,
Das Angesicht gewandt zum duftigen Flieder,
Und über ihm sang immerfort der Vogel.


 << zurück weiter >>