Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Merlins Nachtgesang

Du bleiche Mondessichel,
Die hinterm stillen Abhang
Emportaucht und dort überm Saum des Waldes
So leise zittert, wie der Liebe Lächeln,
Sei mir gegrüßt! Durch Wolken
Winkt heute freundlich mir dein Antlitz, doppelt
Mir drum willkommen, denn du schimmerst mir
Durch ihren Flor, wie durch den dichten Vorhang
Am Altar strahlt die Lampe.

Vorm Angesicht des Schöpfers
Gehst still du seit Äonen,
So wie ein Cherub, der ihm treulich dient,
Vorm Angesicht der Erde
Gehst sanft du seit Äonen
Sowie ein Schutzgeist, der sie sorglich hütet,
Vorm Angesicht der Menschheit
Gehst du mit mildem Lächeln
Sowie ein Freund, der alles dämpft zum Einklang.

Du strahlest den Beglückten,
Die Rosenduft am innigsten verstehen,
Die ihre Herzen leihen
Dem Widerhall des frohen Lerchenliedes,
Die ihre Lippen einen
Zum süßen wonnigen Kelche,
Drin Liebe, die verloren
Das Paradies, nun ihren Schlummer hält.
Du leuchtest in die arme Stube
Und gießt hinein dein Silber,
Damit der Arme von dem Glücke träume,
Ja, freund bist du den Toten,
Wenn sie im Leichenkleide
Von allen sind verlassen.
Da siehst du durch das Fenster
Und auf der bleichen Wange liegt dein Schimmer
Und bebt wie eine Thräne,
Die allen Streit zum Einklang dämpft.

Rings schläft das All, der schwarze Abhang
Hebt dort empor sich wie ein Bärenfell,
Nur hin und wieder in das Dickicht
Einfallen weiße Strahlen von dem Mondlicht,
Als ob ins Fell des Bären
Sich eines Jägers weiße Finger bohrten.
Der Jäger ist der Herr, der fest das Untier,
Das schwarze Dunkel, draus das Grauen steigt,
Beim Haupte faßte, seinen Speer ergriff,
Des Mondes gold'nen Strahl,
Und ihn hineinstieß in den grimmen Rachen,
Daß rings als Frührot sich sein Blut ergoß –
Ostwinde, seine Hunde lecken nun
Das dunkle Blut auf und die Erde lächelt
Dem jungen Tag entgegen.

Allein von allen Wesen,
Wach' ich und schau des dunklen Himmels Träume,
An meine Felsenschlucht hat
Geklopft des Mondes Licht und ich erwachte,
Die Welt zu grüßen, sanft zu ihr zu sprechen,
Daß auf dem weiten Weg sie müd' nicht werde,
Und ihr zu sagen, daß ein Engel
Mit breiten Flügeln hinter ihr einherschwebt,
Im Fall sie aufzufangen,
Ja, daß selbst Gott in seinen Arm sie finge,
Wie eine wunde, weiße Taube,
Und sie im Saume seines Kleides
In die ersehnte Ruhe betten würde.

Oft scheint es mir, ich höre,
Wie sich die schwere Thür des Himmels öffnet
Und wieder schließt, dann herrscht
Die Stille wieder, dann ein Flügelrauschen
Und tief im Herzen fühl' ich,
Das ganze All ruht in der Hand des Herrn,
Und geh' beruhigt schlafen,
Denn er ist allwärts, allwärts ist mein Heim.

Der Thau blitzt auf dem Grase,
Ich seh' den Hauch der Erde, der im Dampfe
Emporsteigt als des Morgens Ahnung.
Der weißen Birke Stamm, der Eiche Knorren
Verstehen sich in diesem leisen Dämmern,
Und heimliche Verwandtschaft
Fühlt mit der Welle, die da nagt, die Wurzel.
Rings schweben hundert Träume,
Und an mein graues Haupt
Rührt Flügelschlag,
So wie die großen braunen Fledermäuse
Anstoßen an den Stamm
Der alten Ulme, der sie just entflogen.

O Nacht, wirf jetzt nach ihnen
Dein Schattennetz, daß über diesen Wipfeln,
Daß über diesen Bergen,
Wie Roland sieghaft in der leichten Rüstung,
Sich heb' der Morgen!

Horch jetzt! Der Sang der Grasmücke!
Mein Herz jauchzt auf, denn jemand fühlt mit mir.
Jetzt ätzt sie wohl die Jungen,
Wie ich die Seele nähre mit Gedanken.
O singe, sing! in Töne umgewandelt,
Steigt leichter himmelwärts mein Traum, mein Sehnen,
Wird leichter kund der Erde
Noch nach Jahrhunderten dies mein Vermächtnis,
Das meinen Segen dieser Erde läßt
Und meinen Gruß der Menschheit!


 << zurück weiter >>