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Osterbrief an die Nationalversammlung

Weimar, 15.4.1919

Die Nationalversammlung als die berufene Vertreterin des deutschen Volkes hat am 10. April mit großer Einmütigkeit die Erwartung ausgesprochen, daß die Reichsregierung nur einem Frieden der Verständigung und Versöhnung zustimmt und jeden Vertrag ablehnt, der Gegenwart und Zukunft des deutschen Volks und der Menschheit preisgibt.

Ich begrüße diese Kundgebung als das Bekenntnis des unbeugsamen Willens des deutschen Volks, daß der kommende Friede ein Friede dauernder Verständigung und Versöhnung der Völker sein soll, und daß er somit auch Deutschland die Möglichkeit geben muß, diesen Grundsatz der Verständigung und Versöhnung dauernd zu beobachten. Der Wille des deutschen Volkes wird für die Reichsregierung maßgebend sein.

Nationalversammlung und Reichsregierung arbeiten mit Hingabe und Energie an der Erfüllung ihrer großen historischen Aufgabe, Frieden, Brot und Arbeit und eine neue Staatsform für ein großes Volk zu schaffen. Die Aufgabe ist schwer zu erfüllen, solange diejenigen, die es in der Hand haben, der Welt den Frieden zu geben, sich noch von dem Gefühle des Völkerhasses und der Rache beherrschen lassen und durch Hungerblockade und drohende Existenzvernichtung das deutsche Volk zur Verzweiflung treiben.

Bereits vor fünf Monaten haben wir unter Annahme der Bedingungen unserer Gegner die Grundlage für den Friedensschluß mit ihnen vereinbart. Wir haben die schweren Aufgaben des Waffenstillstandes erfüllt, unser Heer aufgelöst, die feindlichen Kriegsgefangenen herausgegeben. Aber immer noch wird uns der Friede vorenthalten. Obgleich wehrlos und wirtschaftlich am Ende, werden wir durch die Blockade immer noch abgesperrt, werden unsere Gefangenen immer noch in Feindesland zurückgehalten. Das ist gleichbedeutend mit der Fortsetzung des Krieges und eine Belastung, wie sie wohl noch kein Volk zu bestehen hatte.

Wir haben alles getan, um bei unseren Feinden den Friedensschluß zu erreichen und unser Volk von dieser unerträglichen Qual zu befreien. Die Verantwortung für alle Folgen, die sich aus der Fortdauer des jetzigen Zustandes für uns, für das übrige Europa und letzten Endes für die ganze Welt ergeben müssen, fällt somit auf sie. Dies mögen sich unsere Gegner in zwölfter Stunde vor Augen halten.

Frieden, Arbeit und Brot und das neue Deutschland zu schaffen, ist aber auch unmöglich, solange Teile unseres eigenen Volkes in einem Kampf verharren, der unser schwer darniederliegendes Staats- und Wirtschaftsleben vollends zu vernichten droht. Wohl ist viel gesündigt worden am deutschen Volk in vier schweren Kriegsjahren. Darum ist unsere erste Pflicht, zu verstehen, zu helfen und zu bessern. Aber der Drang der Massen nach Menschlichkeit und Menschenwürdigkeit ist keine Entlastung für eine Handvoll führender Unruhestifter, die planmäßig den Aufbau der deutschen Republik zu stören trachten.

Das neue Deutschland soll aufgebaut werden im Wege energischer, organischer Ausgestaltung zum sozialen Volksstaat. Den wirtschaftlichen und sozialen Interessenvertretungen soll dauernder Einfluß auf die Gestaltung des Staatslebens eingeräumt werden. Besonders die letztere Frage ist Gegenstand eingehender Prüfung der Regierung. Aber das neue Deutschland kann nicht geschaffen werden durch den radikalen Sprung ins Dunkle, der sicher ein Sprung in den Abgrund wäre. Die bolschewistische Diktatur der Minderheit des Proletariats würde den Industriestaat Deutschland sicher in wenigen Monaten ruinieren.

Selbstverständlich muß berechtigten wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter, Angestellten und Beamten Rechnung getragen werden. Dafür wird sich die Regierung immer einsetzen. Aber sinnlose politische Streiks setzen das Schicksal der Arbeiter und ihrer Familien aufs Spiel und müssen zur Verelendung führen. Deshalb gebietet uns das Lebensinteresse unseres Volkes, diesen Bestrebungen mit allen Kräften entgegenzutreten und gegen Gewaltakte terroristischer Elemente entschieden einzuschreiten.

Schleuniger Friede nach außen, fußend auf der Grundlage der Verständigung und des Bundes aller Völker, ist für uns eine Lebensfrage. Aber nicht weniger beruht unsere Rettung vor dem Untergang auf der Notwendigkeit von Friede und Arbeit im Innern. Darum wende ich mich in dieser ernsten Stunde an unser deutsches Volk in allen seinen Schichten mit der mahnenden Bitte: »Laßt ab von der Selbstzerfleischung, überwindet Euch, tut die Augen auf vor dem Abgrund, arbeitet!«

Und Sie, die Abgeordneten unseres Volkes, bitte ich: Wohin Sie auch gehen während der Pause, die heute in Ihren Beratungen eintritt, wirken Sie überall für Friede und Arbeit. Unser Vaterland, unser neues Deutschland darf nicht zuschanden werden.


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