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147. An Georg Brandes.

Turin, den 23. Mai 1888.

Verehrter Herr,

Ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wie vielen Anteil Sie an meinem ersten wohlgeratenen Frühling haben. Die Geschichte meiner Frühlinge, seit 15 Jahren zum mindesten, war nämlich eine Schauergeschichte, eine Fatalität von Décadence und Schwäche. Die Orte machten darin keinen Unterschied; es war, als ob kein Rezept, keine Diät, kein Klima den wesentlich depressiven Charakter dieser Zeit verändern könnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten, Ihre Nachrichten, »Ihre Nachrichten«, die Mitteilung, daß Brandes in Kopenhagen vor etwa 300 Zuhörern Vorlesungen über den deutschen Philosophen Nietzsche hielt, vgl. S. 333, 336. verehrter Herr, aus denen mir bewiesen ward, daß ich lebe ... Ich pflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frage erinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht ist, der Begriff »Zukunft«. Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinem siebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tage von heute gleichen? – Ist es, daß ich zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehr für die schönen Möglichkeiten aufzumachen? – Aber gewiß ist, daß ich jetzt mich darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, – daß ich heute festsetze, was morgen geschehen soll – und für keinen Tag weiter! Das mag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht unchristlich sein – jener Bergprediger verbot gerade diese Sorge »um den andern Tag« –, aber es scheint mir im höchsten Grade philosophisch. Ich bekam vor mir etwas Respekt mehr, als ich ihn sonst schon habe: – ich begriff, daß ich verlernt habe, zu wünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. –

Diese Wochen habe ich dazu benutzt, »Werte umzuwerten«. – Sie verstehen diesen Tropus? – Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es gibt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Wertvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert, die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios diesmal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist – und daraus gerade habe ich mein »Gold« gemacht ...

Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es tun. –

– Ist meine Photographie in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hat mir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Falle nicht undankbar erscheinen zu müssen. Hoffentlich hat auch der Leipziger Verleger E. W. Fritzsch seine Schuldigkeit getan und den » Hymnus« expediert.

Ich bekenne zuletzt eine Neugierde. Da es mir versagt war, an der Türspalte zu horchen, um etwas über mich zu erfahren, würde ich gern auf eine andere Weise etwas horchen mögen. Drei Worte zur Charakteristik der Themata Ihrer einzelnen Vorlesungen – wieviel wollte ich aus drei Worten lernen!

Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und ergeben

Ihr
Nietzsche.


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