Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

37. An Erwin Rohde.

Lugano, Hôtel du Parc (wird aber Ende der Woche verlassen), 29. März 1874.

Ja, mein lieber Freund, den Bann lösen! »den Bann lösen!« bezieht sich auf Nietzsches Plan, die Basler philosophische Professur zu übernehmen und Rohde dafür seine philologische abzutreten. Das ist nicht leicht und mir zurzeit gänzlich unmöglich. Denn ich weiß von der Fortentwicklung der Sache nichts, gar nichts. Vischer hat mir zwar einmal hierher (nach Lugano) geschrieben, aber in seinem Briefe war kein Wort über unser gemeinsames Anliegen. Dagegen erlebte ich noch in Basel vor meiner Abreise und nachdem ich Dir geschrieben, einige Anzeichen, daß der »Philosoph« Steffensen keinen guten Willen für das Projekt hat. Denke Dir, wie sehr man mich in der Hand hat, wenn man sich auf meine nie verschwiegene Schopenhauerei berufen kann! Zudem muß ich doch auch mich philosophisch etwas ausweisen und legitimieren; eine kleine Schrift »Ursprung und Ziel der Tragödie« »Ursprung und Ziel der Tragödie«, anderer Titel der »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. ist dazu fertiggemacht worden, fertig bis auf einige Pinselstriche. Somit glaube ich, daß wir mindestens etwas noch warten müssen, nämlich bis Michaelis, wo sich die Sache, bestenfalls, für uns entscheidet. Freilich ist damit der traurige Zustand der Aufregung und Unzufriedenheit, als unser Perpetuum mobile, noch recht in die Länge gezogen, und wir haben gute Zeit, unsere philosophische Kaltblütigkeit an einer nicht sehr hoffnungsreichen Erwartung zu erproben! – Das ist nun die Kehrseite meines Einfalls: gelang er schnell und unerwartet, Glorie! verzögerte er sich, Miserabilität! Wir haben das längere Teil erwählt, das diesmal auch das kürzere ist.

Mein Befinden ist leider noch nicht das beste; immer noch verbringe ich von zwei Nächten die eine schlaflos. Obwohl ich viel heiterer und ruhiger bin und im ganzen mich wohl fühle, darf ich doch noch nicht an Reisepläne denken; von Italien erhasche ich den Zipfel und lasse ihn bald wieder fallen. Ich habe noch nicht einmal den Comersee und den Langensee kennen gelernt – und bin bereits mehr als sechs Wochen in Lugano! Das Wetter ist im ganzen wenig italienisch; von einem Frühling, der mehr wäre als unser deutscher Frühling, habe ich noch nichts gespürt. Selbst die niederen Berge ringsherum haben noch Schnee, und bis vor zwei Wochen hatten wir ihn noch im Garten des übrigens guten Hotels. Abnorm! sagt man mir – ein leidiger Trost, an den ich mich seit meinem Aufenthalte in der Schweiz bereits gewöhnt habe.

Unter vielen niedergedrückten und halben Stimmungen habe ich auch einige recht erhobene gehabt und davon in dem genannten Schriftchen einiges merken lassen. Von der Philologie lebe ich in einer übermütigen Entfremdung, die sich schlimmer gar nicht denken läßt. Lob und Tadel, ja alle höchsten Glorien auf dieser Seite machen mich schaudern. So lebe ich mich allmählich in mein Philosophentum hinein und glaube bereits an mich; ja, wenn ich noch zum Dichter werden sollte, so bin ich selbst hierauf gefaßt. Einen Kompaß der Erkenntnis, wozu ich bestimmt sei, besitze ich ganz und gar nicht: und doch sieht mir, in der Rekapitulation, alles so wohl zusammenstimmend aus, als ob ich einem guten Dämon bis jetzt gefolgt sei. Daß sich jemand, in dieser Unklarheit der Ziele, ja ohne jedes höchste Streben auf eine Staatsbeamtung hin, doch so klar und ruhig fühlen könne wie ich mich im ganzen fühle, habe ich nie geglaubt. Welche Empfindung, seine eigne Welt, einen hübschen Ball, vor sich rund und voll werden zu sehn! Bald sehe ich ein Stück neue Metaphysik, bald eine neue Ästhetik wachsen: dann wieder beschäftigt mich ein neues Erziehungsprinzip, mit völliger Verwerfung unserer Gymnasien und Universitäten. Ich lerne bereits nichts mehr, was nicht sofort in irgendeinem Winkel des Vorhandenen einen guten Platz vorfindet. Und am meisten empfinde ich das Wachsen dieser eignen Welt, wenn ich, nicht mit Kühle, aber mit Ruhe, alle die sogenannte Weltgeschichte der letzten zehn Monate betrachte und sie nur als Mittel für meine guten Absichten, ohne jede übertriebene Ehrfurcht vor diesem Mittel, verwende. Stolz und Verrücktheit sind wirklich zu schwache Worte für meine geistige »Schlaflosigkeit«. Dieser Zustand macht es mir möglich, auf die ganze Universitätsstellung als etwas Nebensächliches, ja oft nur Peinliches hinzusehn, und selbst jene philosophische Professur reizt mich eigentlich vornehmlich Deinetwegen, da ich ja auch die Professur nur als etwas Provisorisches betrachte.

Ach, wie sehr verlange ich nach Gesundheit! Man habe nur erst etwas vor, das etwas länger dauern soll als man selber – dann dankt man für jede gute Nacht, für jeden warmen Sonnenstrahl, ja für jede geregelte Verdauung! Bei mir sind aber irgendwelche inneren Organe des Unterleibes in Zerrüttung. Daher Nerven und Schlaflosigkeit, Hämorrhoiden und Blutgeschmack etc. Sei nur so freundlich, nicht etwa auch jenen vorhin geschilderten Geisteszustand auf das Gangliensystem zurückzuführen! Mir würde sonst um meine Unsterblichkeit bange. Denn ich habe noch nicht gehört, daß Blähungen philosophische Zustände erregen.

Mit diesen – mit diesen Zuständen – mich Dir empfehlend, bitte ich Dich recht von Herzen, die Hoffnung noch nicht völlig aufzugeben: ich weiß, wie gern Vischer die Sache betreiben wird. Meine Briefsäumnisse mag ich nicht entschuldigen: aber Du weißt, je mehr man die Freunde braucht, um so weniger pflegt man zu schreiben. Es ist ganz gut – aber doch nicht recht! Darum bekommst Du bald wieder von mir einen Brief. Inzwischen denke meiner, wie ich Deiner stets gedenke, lieber Freund!

F. N.


 << zurück weiter >>