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51. An Hugo von Senger.

Basel, Mitte November 1872.

Ihr großes Vertrauen zu mir, wertester Freund, spricht sich in Ihrem Schreiben so offen aus, daß ich heute, mit gleicher Offenheit, Ihnen zu entgegnen genötigt bin erstens: daß ich Philologe und etwas, wenn Sie wollen, Philosoph bin, dazu hart bestrittener (doch wie Sie aus beifolgender Schrift »aus beifolgender Schrift«, Rohdes Broschüre »Afterphilologie«, s. zu S. 143. ersehen, gut verteidigter) Philolog. Zweitens, daß ich weder Musiker noch Dichter bin und somit auch bedauerlicherweise Ihnen in diesem Falle weder zu raten noch sonst zu nützen imstande bin. »weder zu raten noch zu nützen imstande bin«, von Senger hatte Nietzsche gebeten, für ihn einen Operntext nach Flauberts »Salambo« zu dichten, ebenso einen Kantatentext für altkatholische Reformzwecke. Der darauf bezügliche Brief von Sengers ist nicht mehr vorhanden. Dazu habe ich, wenn Sie gütigst erlauben, in meiner Eigenschaft als Philosoph, der die gegenwärtige Musikentwicklung im Zusammenhang mit einer zu erstrebenden Kultur betrachtet – einige eigne Gedanken über das gegenwärtige Komponieren im großen dramatischen Musikstile. Ich weiß recht wohl, daß in den musikalischen Fachzeitschriften die Bedeutung Wagners gerade dorthin verlegt wird, daß er die alten Formen Sonate, Symphonie, Quartett usw. zertrümmert habe, ja daß überhaupt das Ende der reinen Instrumentalmusik mit ihm gekommen sei. Wenn nun daraus gefolgert wird, daß der Komponist jetzt notwendigerweise zur theatralischen Musik übergehen müsse, so bin ich immer sehr besorgt und vermute dabei eine Verwechslung. Jeder hat in der Art zu sprechen, die ihm geziemt: und wenn der Titan mit Donner und Erdbeben redet, so hat der Sterblichgeborne doch gewiß noch nicht das Recht, diese Sprachform nachzumachen, noch weniger die Pflicht! Wenn die höhere Kunstform erfunden ist, so sind, nach meiner Empfindung, die kleineren erst recht nötig, bis zur kleinsten hinab, damit schon die Künstler nach ihrer verschiedenen Art sich aussprechen können, ohne fortwährend überdonnert zu werden. Die reinste Verehrung für Wagner zeigt sich gewiß darin, daß man als schaffender Künstler ihm in seinem Bereiche ausweicht und in seinem Geiste, ich meine mit der unnachsichtlichen Strenge gegen sich selbst, mit der Energie, in jedem Augenblick das höchste zu geben was man vermag, eine andre, kleinere, ja die kleinste Form belebt und beseelt. Ich freue mich deshalb, daß Sie den Mut haben, die neuerdings so scheel angesehene Kantatenform ernst zu nehmen; und wenn Sie z. B. bei diesem Ernstnehmen im Wagnerschen Sinne eine bessere Musik zu der Goetheschen Walpurgisnacht zu machen vermöchten als Mendelssohn, so wäre das etwas Ordentliches und eines tüchtigen Wettkämpfers würdig; zudem würde Ihnen niemand einen schöneren und – wie soll ich sagen? – mehr reformatorischen Text bieten können.

Ich bitte Sie, lieber Freund, mit dieser Auslassung heute fürlieb zu nehmen und dieselbe so günstig und wohlwollend wie möglich zu deuten.

In Treue Ihr Fr. Nietzsche.


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