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19. An Erwin Rohde.

Leipzig, am Bußtage 20. Nov. 1868.

Mein lieber Freund,

jetzt wo ich wieder das wimmelnde Philologengezücht unserer Tage aus der Nähe sehe, wo ich das ganze Maulwurfstreiben, die vollen Backentaschen und die blinden Augen, die Freude ob des erbeuteten Wurms und die Gleichgültigkeit gegen die wahren, ja aufdringlichen Probleme des Lebens täglich beobachten muß, und nicht nur an der jungen Brut, sondern an den ausgewachsenen Alten: da kommt es mir immer begreiflicher vor, daß wir beide, falls wir nur sonst unserm Genius treu bleiben, nicht ohne mannigfache Anstöße und Quertreibereien unsern Lebensweg gehen werden. Wenn sich Philologe und Mensch nicht völlig decken, so staunt das erwähnte Gezücht erst das Mirakel an, dann ärgert es sich und endlich kratzt, bellt und beißt es: als wovon Du eben ein Beispiel erlebt hast. S. 73: »eben ein Beispiel erlebt hast«. Es handelte sich um einen Aufsatz Rohdes über Lukians ούϰιος ἢ ὄνος und sein Verhältnis zu Lucius von Pätra und die Metamorphose des Apulejus, den Nietzsche an Ritschl zur Aufnahme im Rhein. Mus. übermittelt hatte (vgl. Biogr. II S. 46ff.). Der damalige Mitherausgeber des Rhein. Mus., Dr. Klette in Bonn, lehnte den umfangreichen Aufsatz wegen Überhäufung mit Material ab; da bald nachher eine Dissertation von Knaut über den gleichen Gegenstand von der Leipziger philosophischen Fakultät sehr günstig beurteilt wurde, rief die Angelegenheit bei Nietzsche Entrüstung über die Nichtberücksichtigung seines Freundes und bei Rohde eine Verstimmung gegen Ritschl hervor. Denn das ist mir ganz ersichtlich, daß der Dir gespielte Streich durchaus nicht gegen Deine spezielle Leistung gerichtet ist, sondern gegen das Persönliche; und ich lebe der sicheren Hoffnung, bald auch einmal so einen Vorgeschmack von dem zu bekommen, was meiner noch in dieser höllischen Atmosphäre wartet. Aber, lieber Freund, was hat das mit Deinen und meinen Leistungen zu tun, was andere über unsre Persönlichkeiten urteilen? Denken wir an Schopenhauer und Richard Wagner, an die unverwüstliche Energie, mit der sie den Glauben an sich unter dem Hallo der ganzen »gebildeten« Welt aufrechterhielten; und wenn es nicht erlaubt ist, sich auf deos maximos zu berufen, so bleibt uns immer noch der Trost, daß den Käuzen das Recht zu existieren nicht versagt werden darf (auch dem Käuzchen nicht: »Auch dem Käuzchen nicht: cf. beifolgende Photographie«, das »Käuzchen« war die Schauspielerin Suschen Klemm aus Weimar, die von den Freunden diesen Namen erhielt nach einer von dem Photographen Eulenstein in Leipzig angefertigten Photographie. cf. beifolgende Photographie) und daß zwei sich verstehende und herzenseinige Käuze ein fröhliches Schauspiel für die Himmlischen sind.

Schließlich ist nichts bedauerlicher, als daß gerade jetzt, wo wir anfangen, unsere Lebensanschauung praktisch zu bewähren und der Reihe nach alle Dinge und Verhältnisse, Menschen, Staaten, Studien, Weltgeschichten, Kirchen, Schulen usw. mit unsern Fühlhörnern betasten – daß gerade jetzt so viele Meilen zwischen uns liegen und daß jeder von uns die halb vergnügliche, halb schmerzliche Empfindung, seine Weltanschauung zu verdauen, für sich allein haben muß: eigentlich wäre nichts erquicklicher, als so, wie wir damals bei Kintschy unsre leiblichen Mahlzeiten gemeinsam verdauten, so jetzt zusammen symbolisch einen Nachmittagskaffee zu trinken und von der Mitte unsres Lebenstages aus rückwärts und vorwärts zu schauen.

Nun, es wird dazu auch in Paris »Auch in Paris«, Nietzsche plante eine gemeinsame Studienreise mit Rohde nach Paris (vgl. S. 59).noch nicht zu spät sein: wo die große ἀναγνώρισις unsrer Komödie stattfindet, und zwar auf der schönsten Szene der Welt, zwischen den buntesten Kulissen und einer Unzahl glänzender Statisten.

Ach wie schön ist diese Luftspiegelung! –

Darum bleibe fern kommune Wirklichkeit, schändlich gemeine Empirie, Soll und Haben, Grenzbotennüchternheit – nein, dieser ganze Brief sei nun mit ganzer Seele

als festlich hoher Gruß
dem Freunde dargebracht!

(Er trinkt das Tintefaß aus.)

Chor der Asketen:

Selig der Liebende,
Der die betrübende,
Heilsam' und übende
Prüfung bestanden!


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