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128. An die Schwester.

Venedig, 20. Mai 1885.

Mein liebes Lama,

für den Tag, welcher über Dein Lebenslos entscheidet (und zu dem Dir niemand mehr als ich Glück und Gedeihen und gute Vorzeichen und guten Mut anwünschen kann) – für diesen Tag muß ich mir selber eine Art Lebensabrechnung machen. Von jetzt an wirst Du ganz andere Sachen zunächst und zuvorderst in Kopf und Herzen haben als die Sachen Deines Bruders, und so soll es recht und billig sein – und ebenso liegt es in der Natur, daß Du mehr und mehr die Denkweise Deines Gatten teilen wirst: welche ganz und gar nicht die meine ist, »Denkweise ... welche ganz und gar nicht die meine ist«, Dr. Förster war stark ausgeprägter Antisemit. soviel ich an ihr auch zu ehren und zu rühmen habe. Damit Du aber künftighin eine Art Direktion hast, inwiefern die Beurteilung Deines Bruders viele Vorsicht und vielleicht auch Schonung erfordert: schreibe ich es Dir heute, zum Zeichen großer Herzlichkeit, worin das Schlimme und Schwere meiner Lage liegt. Ich habe bis jetzt, von Kindesbeinen an, niemanden gefunden, mit dem ich dieselbe Not auf Herzen und Gewissen hätte. Dies zwingt mich heute noch, wie zu allen Zeiten, mich, so gut es gehen will, und oft mit sehr viel schlechter Laune, unter irgendeiner der heute erlaubten und verständlichen Menschheitssorten zu präsentieren. Daß man aber eigentlich nur unter Gleichgesinnten, Gleichgewillten gedeihen kann, ist mein Glaubenssatz (bis hinab zur Ernährung und Förderung des Leibes); daß ich keinen habe, ist mein Malheur. Meine Universitätsexistenz war der langwierige Versuch der Anpassung an ein falsches Milieu; meine Annäherung an Wagners war dasselbe, nur in entgegengesetzter Richtung. Fast alle meine menschlichen Beziehungen sind aus den Anfällen des Vereinsamungsgefühles entstanden: Overbeck, so gut als Rée und Malwida – ich bin lächerlich glücklich gewesen, wenn ich mit jemandem irgendein Fleckchen und Eckchen gemein fand oder zu finden glaubte. Mein Gedächtnis ist überladen mit tausend beschämenden Erinnerungen, in Hinsicht auf solche Schwächen, in denen ich die Einsamkeit absolut nicht mehr ertrug. Mein Kranksein hinzugerechnet, welches immer die schauerlichste Entmutigung über mich bringt; ich bin nicht umsonst so tief krank, gewesen, – und auch jetzt noch durchschnittlich krank, d. h. betrübt – wie gesagt, nur weil es mir am rechten Milieu fehlt und ich immer etwas Komödie spielen muß, statt mich an den Menschen zu erholen. – Ich betrachte mich deshalb ganz und gar nicht als einen versteckten oder hinterhältigen oder mißtrauischen Menschen; im Gegenteil! Wäre ichs, so würde ich nicht so viel leiden! Man hat es aber nicht in der Hand, sich mitzuteilen, wenn man auch noch so mitteilungslustig ist, sondern man muß den finden, gegen den es Mitteilung geben kann. Das Gefühl, daß es bei mir etwas sehr Fernes und Fremdes gebe, daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte bei andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund gibt, welcher täuscht, – genau dies Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von »Verständnis«, den ich bisher gefunden habe. Alles was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu tun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den Deutschen Schopenhauer oder Wagner anempfehle, bald Zarathustras ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeitlang wieder sitzen kann.

Halte mich deshalb, mein liebes Lama, nicht für toll und vergib es mir insbesondere, daß ich nicht bei Deinem Feste zugegen bin: so ein »krankhafter« Philosoph gäbe einen schlechten Brautvater ab! Mit tausend zärtlichen Wünschen

Dein F.


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