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28. An Erwin Rohde.

Naumburg, 7. Oktober 1869.

Heil und Segen voran!

Die Überschrift des Briefes zeigt Dir, welche Üppigkeit mir zuteil geworden, heimatliche Wärme und Erinnerungsfülle. Draußen vor den Fenstern liegt der gedankenreiche Herbst im klaren, mildwärmenden Sonnenlichte, der nordische Herbst, den ich so liebe wie meine allerbesten Freunde, weil er so reif und wunschlos unbewußt ist. Die Frucht fällt vom Baum, ohne Windstoß.

Und so ist es mit der Liebe der Freunde: ohne Mahnung, ohne Rütteln, in aller Stille fällt sie nieder und beglückt. Sie begehrt nichts für sich und gibt alles von sich.

Nun vergleiche die scheußlich-gierige Geschlechtsliebe mit der Freundschaft!

Ich sollte auch meinen, daß jemand, der den Herbst, wenige Freunde und die Einsamkeit wahrhaft liebt, sich einen großen, fruchtbar-glücklichen Lebensherbst prophezeien darf.

»Drum dulde, daß der Parzen eine
»Den Herbst mir spinne, lieb und lang
»Aus halbverkühltem Sonnenscheine
»Und Müßiggang.« »Drum dulde«, nach Angabe Rohdes Verse von Julius Rodenberg, deren er und Nietzsche sich einmal gemeinsam gefreut hatten.

Aber Du weißt, welchen Müßiggang wir meinen: haben wir doch schon zusammengelebt als echte σχολαστιϰοί, d. h. Müßiggänger.

Und was hindert uns, von jenem Lebensherbst zu hoffen, daß er wieder uns so zusammenbringt?

Sei dies denn Wunsch und Hoffnung, ausgesprochen am Gedenktage Deiner Geburt, aber immer und allezeit im Herzen getragen!

Von hier aus suche ich denn die alten Erinnerungsstätten in Leipzig auf, und Romundt meldet mir freundschaftlichst, daß er bereits dort eingetroffen sei, um mich nicht zu verfehlen. Habe ich Dir geschrieben, daß er meine Einladung angenommen hat, den Anfang des Wintersemesters in Basel zu verleben, und daß wir dort die schwierige Frage seiner Zukunftsstellung mitsammen erledigen wollen? Schreibe mir doch Deine Meinung: wie ich ihn jetzt kenne, nach der schönen Entwicklung des letzten Jahres, halte ich ihn der Aussicht auf einen philosophischen Lehrstuhl durchaus für würdig. Wohlverstanden der Aussicht! Er wird viel zu tun haben zur systematischen Bewältigung ganzer philosophischer Disziplinen. Und es möchte noch manches Jahr hingehen dürfen.

Übrigens wünsche ich unser Zusammentreffen auch deshalb so sehnlich, weil eine ganze Fülle von ästhetischen Problemen und Antworten seit den letzten Jahren in mir gärt und mir der Rahmen eines Briefes zu eng ist, um Dir etwas darüber deutlich machen zu können. Ich benutze die Gelegenheit öffentlicher Reden, um kleine Teile des Systems auszuarbeiten, wie ich es z. B. schon mit meiner Antrittsrede getan habe. Natürlich ist mir Wagner im höchsten Sinne förderlich, vornehmlich als Exemplar, das aus der bisherigen Ästhetik unfaßbar ist. Es gilt vor allem, kräftig über den Lessingschen »Laokoon« hinauszuschreiten: was man kaum aussprechen darf ohne innere Beängstigung und Scham.

Windisch ist nun habilitiert: Brockhausens haben mich in Basel besucht, auch sind wir einen Tag in Tribschen zusammen gewesen. Ritschl und Frau haben eine ganz unglaubliche Liebe und Hochschätzung vor mir: was ich Dir verrate, um Dir Freude zu machen. Es sind doch höchst liberale Menschen, mit vieler eigner Kraft: sie ehren sich, wenn sie das Andersartige so unbefangen-freudig gelten lassen.

Und ich sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht auch über Dich so und ähnlich urteilen. Das muß doch das Philologentum empfinden, daß wir gute Freunde sind und unterschiedlich doch von allen anderen. Nicht wahr? Liebster Freund!

F. N.

Bis zum 17. Oktober bin ich hier. – Die schöne und nützliche Kollation des certamen »Kollation des certamen«, Rohde hatte für Nietzsche die Kollation einer Handschrift in Florenz übernommen für dessen Abhandlung »Der Florentinische Traktat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf«, Rhein. Mus. Bd. XXV (1870) S. 528-540 und Bd. XXVIII (1873) S. 211-249, wieder abgedruckt in Werke Bd. XVII Abt. 3 Bd. 1 S. 215-276. ist ein rechter Freundschaftsdienst! Gott, daß solch ausgezeichnete Freunde wie Du Handschriftsklaverei und ähnliche Scheußlichkeiten mir zuliebe über sich nehmen!!


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