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112. An Freiherrn von Gersdorff.

Sils-Maria, 28. Juni 1883.

Mein lieber alter Freund Gersdorff,

inzwischen habe ich erfahren, daß Dir etwas sehr Schmerzliches widerfahren ist – der Verlust Deiner Mutter. Als ich dies hörte, war es mir ein rechter Trost, Dich nicht allein im Leben zu wissen, und ich gedachte der herzlichen und dankbaren Worte, mit denen Du, in Deinem letzten Briefe an mich, Deine Lebensgefährtin erwähntest. Wir haben es in unserer Jugend schwer gehabt, Du und ich – aus verschiedenen Gründen; aber es wäre eine schöne Billigkeit darin, wenn unserem Mannesalter einiges Milde und Tröstliche und Herzstärkende begegnete.

Was mich betrifft, so habe ich eine lange schwere Askese des Geistes hinter mir, die ich freiwillig auf mich nahm und die nicht jedermann sich hätte zumuten dürfen. Die letzten sechs Jahre waren in diesem Betracht die Jahre meiner größten Selbstüberwindung: wobei ich noch absehe von dem, was mich Gesundheit, Einsamkeit, Verkennung und Verketzerung überwinden ließ. Genug, ich habe auch diese Stufe meines Lebens überwunden – und was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!), soll nun ganz und voll das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist vorbei: mein »Zarathustra«, der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verraten, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben – nicht mehr! – Ich weiß ganz gut, daß niemand lebt, der so etwas machen könnte, wie dieser »Zarathustra« ist. –

Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Oberengadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, daß hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist. Ach, was liegt noch alles verborgen in mir und will Wort und Form werden! Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein, daß ich meine innersten Stimmen vernehmen kann!

Ich möchte Geld genug haben, um mir hier eine Art ideale Hundehütte zu baun: ich meine, ein Holzhaus mit zwei Räumen; und zwar auf einer Halbinsel, die in den Silser See hineingeht und auf der einst ein römisches Kastell gestanden hat. Es ist mir nämlich auf die Dauer unmöglich, in diesen Bauernhäusern zu wohnen, wie ich bisher getan habe: die Zimmer sind niedrig und gedrückt, und immer gibt es mancherlei Unruhe. Sonst sind mir die Einwohner von Sils-Maria sehr gewogen; und ich schätze sie. Im Hôtel Edelweiß, einem ganz vorzüglichen Gasthofe, esse ich: allein natürlich, und zu einem Preise, der nicht gänzlich im Mißverhältnis zu meinen kleinen Mitteln steht. Ich habe einen großen Korb Bücher mit heraufgebracht: und auf drei Monate ist es wieder abgesehn. Hier wohnen meine Musen: schon im »Wanderer und sein Schatten« Habs ich gesagt, diese Gegend sei mir »blutsverwandt, ja noch mehr«. – »Diese Gegend sei mir blutsverwandt«, vgl. »Menschliches, Allzumenschliches« S. 368.

Nun habe ich Dir etwas von Deinem alten Freunde und Einsiedler Nietzsche erzählt, – ein Traum von dieser Nacht brachte mich dazu.

Bleib mir gut und treu! – wir sind alte Kameraden und haben manches gemeinsam gehabt!

Dein
Friedrich Nietzsche.

Sils-Maria, Oberengadin (Schweiz)
Ende Juni 1883.


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