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127. An Freiherrn von Seydlitz.

Nizza, pension de Genève, pet. rue St. Etienne.
26. Oktober 1886.

Lieber Freund,

schönsten Dank! – Aber ich will nicht nach Paraguay, wohin man mich einladet. Viel eher noch nach München: vorausgesetzt, daß ich wieder heiterer und »menschenfreundlicher« werde, als ich jetzt gerade bin.

Was für ein schwermütiger Herbst! Bleigewichte überall, niemand, der mich etwas aufhellt, – und nichts um mich als meine alten Probleme, die alten rabenschwarzen Probleme! – Hast Du Dich in meinem »Jenseits« umgetan? (Es ist eine Art Kommentar zu meinem »Zarathustra«. Aber wie gut müßte man mich versteh«, um zu verstehn, inwiefern es zu ihm ein Kommentar ist!) Ein Buch für die Menschen umfänglichster Bildung, z. B. Jakob Burckhardt und Hippolyte Taine, die ich einstweilen für meine einzigen Leser halte: und zuletzt nicht einmal ein Buch für sie –, sie haben weder die gleiche Not noch den gleichen Willen mit mir gemein. – Dies ist Einsamkeit: – ich habe niemanden, der mit mir mein Nein und mein Ja gemein hätte!

Die Reise nach Korsika »Reise nach Korsika«, am 17. August 1888 hatte Nietzsche an Frhrn. v. Seydlitz geschrieben: »Aus meinem letzten deutschen Aufenthalte habe ich ein ressentiment noch nicht überwunden. Die »moralische Luft« daselbst bläst gegen mich, das ist kein Zweifel. Wahrscheinlich mache ich eine Wallfahrt nach Korte auf Korsika (woselbst Napoleon zwar nicht geboren, aber – was vielleicht sehr viel mehr ist, konzipiert worden ist).« gab ich auf, weil mir der Mensch, der mich dahin begleiten sollte, gänzlich bei näherer Besichtigung zuwider wurde. Meine Dreiviertelsblindheit zwang mich, alles eigne Experimentieren zu lassen und schnellstens nach Nizza zu flüchten, das meine Augen »auswendig gelernt« haben. Ja, gewiß! Es hat mehr Licht als München! Bis jetzt weiß ich außer Nizza und dem Engadin keine Gegend, wo ich noch es aushalte, täglich ein paar Stunden mit den Augen tätig zu sein. Aber auch damit geht es vielleicht mit diesem Winter zu Ende. – Habe nur Geduld: ich komme schon noch nach München.

Vielleicht gibt es daselbst ein sehr lustiges weibliches Geschöpf, mit dem ich lachen kann? Ich muß das Lachen nachholen.

Von Paraguay aus die herzlichsten Grüße an Dich und Deine liebe Frau, der ich wünsche bestens empfohlen zu sein.

Treulich Dein Nietzsche.

Den Wagnerianern (namentlich Levi) in München alle samt meine besten compliments, sincères et tendres!


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