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34. An Freiherrn von Gersdorff.

Basel, 7. November 1870.

Mein lieber Freund,

hoffentlich erreicht Dich auch dieser Brief bei gutem tapferen Befinden und leidlicher Stimmung. Woher diese zwar kommen soll, ist mir fast unbegreiflich – es sei denn, daß man wisse, was das Dasein ist und zu bedeuten hat. Wenn sich einmal, wie jetzt, die schrecklichen Untergründe des Seins aufschließen, der ganze unendliche Reichtum des Wehes sich ausschüttet, dann haben wir das Recht, als die Wissenden mitten hindurchzuschreiten. Dies gibt eine mutig resignierte Stimmung: man hälts damit aus und wird nicht zur Salzsäule.

Ich habe mich mit wahrer Begierde in die Wissenschaften gestürzt; jetzt hat nun auch wieder die regelmäßige Berufstätigkeit begonnen. Ich wünschte nur gesünder zu sein. Aber mein Organismus hat unter dem Ansturm der Ruhr sehr gelitten und noch lange nicht ersetzt, was ihm genommen wurde. Man hat mich hier in Basel mit großer Freundlichkeit wieder bewillkommt. Auch von Tribschen habe ich gute Nachrichten. Wagner und Frau sagen Dir die besten Grüße und Wünsche. (Du weißt doch, daß im August die Hochzeit stattgefunden hat? Ich war als Zeuge eingeladen, konnte aber nicht erscheinen, weil ich gerade damals in Frankreich war.) Wagner hat mir vor ein paar Tagen ein wundervolles Manuskript zugeschickt, »Beethoven« betitelt. Hier haben wir eine überaus tiefe Philosophie der Musik im strengen Anschluß an Schopenhauer. Diese Abhandlung erscheint zu Ehren Beethovens – als die höchste Ehre, die ihm die Nation erweisen kann. –

Mein Brief ist einige Tage zu meinem Leidwesen liegengeblieben. Das neue Semester begann wie gewöhnlich mit einem kräftigen Ansturm, so daß einem Hören und Sehen verging. Ich lese dieses Semester zwei neue Kollegien: »griechische Metrik und Rhythmik« (nach einem eignen System) und Hesiod. Sodann die Seminarübungen. Dann die griechischen Stunden am Pädagogium, in denen ich die Oresteia des Äschylos vornehme. Dazu kommen Regenz-, Fakultäts- und Bibliothekssitzungen nebst manchen Einladungen geselliger Art.

Gestern abend hatte ich einen Genuß, den ich Dir vor allem gegönnt hätte. Jacob Burckhardt hielt eine freie Rede über »historische Größe«, »freie Rede über ›Historische Größe‹«, Jakob Burckhardt pflegte jeden Winter sechs öffentliche Vorträge in Basel zu halten, deren einer der genannte war. und zwar völlig aus unserm Denk- und Gefühlskreise heraus. Dieser ältere, höchst eigenartige Mann ist zwar nicht zu Verfälschungen, wohl aber zu Verschweigungen der Wahrheit geneigt, aber in vertrauten Spaziergängen nennt er Schopenhauer »unseren Philosophen«. Ich höre bei ihm ein wöchentlich einstündiges Kolleg über das Studium der Geschichte und glaube der einzige seiner 60 Zuhörer zu sein, der die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift, begreift. Zum ersten Male habe ich ein Vergnügen an einer Vorlesung: dafür ist sie auch derart, daß ich sie, wenn ich älter wäre, halten könnte. In seiner heutigen Vorlesung nahm er Hegels Philosophie der Geschichte vor, in einer des Jubiläums durchaus würdigen Weise.

In diesem Sommer habe ich einen Aufsatz geschrieben »über die dionysische Weltanschauung«, »über die dionysische Weltanschauung«, dieser Aufsatz ging ebenso wie die Gedanken der früheren Vorträge später in die »Geburt der Tragödie« über. der das griechische Altertum von einer Seite betrachtet, wo wir ihm, dank unserm Philosophen, jetzt näher kommen können. Das sind aber Studien, die zunächst nur für mich berechnet sind. Ich wünsche nichts mehr, als daß mir die Zeit gelassen wird, ordentlich auszureifen und dann etwas aus dem Vollen produzieren zu können.

Vor dem bevorstehenden Kulturzustande habe ich die größten Besorgnisse. Wenn wir nur nicht die ungeheuren nationalen Erfolge zu teuer in einer Region bezahlen müssen, wo ich wenigstens mich zu keinerlei Einbuße verstehen mag. Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Kultur höchst gefährliche Macht. Das Schulwesen will ich einmal später öffentlich bloßlegen; mit den religiösen Umtrieben, wie sie jetzt wieder von Berlin aus zugunsten der katholischen Kirchengewalt im Gange sind, mags ein anderer versuchen. – Es ist mitunter recht schwer, aber wir müssen Philosophen genug sein, um in dem allgemeinen Rausch besonnen zu bleiben – damit nicht der Dieb komme und uns stehle oder verringere, was für mich mit den größten militärischen Taten, ja selbst mit allen nationalen Erhebungen nicht in Vergleichung kommen darf.

Für die kommende Kulturperiode sind die Kämpfer vonnöten: für diese müssen wir uns erhalten. Lieber Freund, mit den größten Besorgnissen denke ich immer an Dich: – möge Dich der Genius der Zukunft, in dem Sinne, wie wir sie erhoffen, geleiten und schützen!

Dein treuer Freund Fr. Nietzsche.

Basel, 7. Nov. 70.


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