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122. An Dr. Bernhard Förster.

Venedig, 16. April 1885.
Donnerstag.

Lieber und sehr verehrter Herr Doktor,

– endlich eingerichtet: Geistesgegenwart, Tintenfaßgegenwart und alles, was dazu gehört, um einen Brief zu schreiben. Voilà!

Hier und da fällt auch mir ein guter Tag vom Himmel: so geschahs kürzlich, als ich wieder in der Stadt war, die ich allein liebe. Und da gerade, zu allen den guten Geschenken eines ersten Vormittags auf dem St. Markusplatze, kam mir auch noch Ihr Brief zu Händen. Es ist gar nicht möglich, daß ich einen Brief unter herzlicheren Empfindungen lesen kann. – – Also, es hilft nichts, meine Schwester geht »in die weite weite Welt« und mit Ihnen, mein lieber Herr Doktor. Die Liebe führt das Lama – Pardon! so nannte ich sie bisher –, wie mir scheint, in viele Gefahren, fernab von der Heimat, in ein Leben voller Versuche, wo manches schief, manches gut gehn wird: in summa, es erwartet sie eine tapfere Zukunft. In dem allen tut sie mir es gleich: es scheint, dies gehört zur Rasse. Und wenn die Liebe sie in weniger »abstrakter« Gestalt führt als mich, so hat sie vielleicht von uns beiden den besseren Geschmack und »den besseren Teil« erwählt: nämlich Herrn Bernhard Förster. Die Frauen sind in solchen Dingen schlauer als die Männer: unsereins läuft der »Wahrheit« und solchen andern blassen Schönheiten nach, und schließlich, wenn man es weit bringt, bringt man es so weit, bei dieser Leidenschaft, daran zu zweifeln, ob man noch imstande ist, irgendeinen Menschen recht aus letztem Herzensgrunde zu lieben: was, nach Briefen und sonstigen Dokumenten der Seele zu schließen, meiner Schwester ganz und gar nicht widerfahren ist.

Dies soll nicht ein Seufzer meinerseits sein, sondern nur ein Einwand gegen eine gewisse allzu schmeichelhafte und unverdiente Wendung Ihres viel zu ernsten Briefes. Man soll, wenn man liebt, eine Sache auch mit ihren schlimmen Kehrseiten lieben (wie das Leben einmal eingerichtet ist, bezahlt man alles etwas zu teuer – scheint mir), umgekehrt: um mit meinem Sohne Zarathustra zu reden: »jedwedes schlimme Ding hat zwei gute Kehrseiten« – und was Ihnen fürderhin auch begegnen mag, verehrter Herr Doktor, meine Schwester wird Ihnen helfen, die »guten Kehrseiten« und den Himmel wieder hell zu finden. Es scheint, auch dies gehört zur Rasse. –

Mit vielen guten Wünschen, auch unaussprechbaren –

Ihr sehr ergebener

Nietzsche.


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