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68. An Oswald Marbach.

»An Oswald Marbach«, über seine Beziehungen zu Marbach schreibt Nietzsche am 9. Juli 1874 an Gersdorff: »Etwas ganz Rührendes habe ich von Seiten des alten Oswald Marbach erlebt. Er hatte mir, obwohl wir uns nicht kennen, seine ausgezeichnete Übersetzung der Oresteia überschickt, als Dank für die ihm inzwischen bekannt gewordene »Geburt der Tragödie«, über die er sich aussprach. Ich antwortete ihm, wenngleich spät. Und nun hat er sich in einem neuen Briefe gegen mich ausgeschüttet, daß es ergreifend zu hören ist: wie er sich nur zweier Begegnungen in seinem Leben freuen könne; die eine sei die mit Wagner, die andre die – mit mir.«

Basel, 14. Juni 1874.

Hochverehrter Herr Hofrat!

Ich komme so spät dazu, Ihnen für die Übersendung Ihrer Oresteia und des Prometheus zu danken, tue dies aber mit um so mehr Überzeugung, als gerade die Beschäftigung mit der Oresteia – ich lese im Kolleg die Choephoren – einer der Gründe war, der mich vom Briefschreiben abhielt. Ich weiß kaum einen andern Menschen noch und gewiß keinen jetzt lebenden Philologen, der in einem so tiefen und natürlichen Verhältnis zur antiken Tragödie stünde wie Sie und der so sehr gehört zu werden verdiente, wenn er etwas von seinen inneren Erfahrungen mitteilt. Ich las mit dem größten Wohlgefühl Ihre Übersetzung und glaube nichts Besseres gelesen zu haben, so daß ich mir sofort Ihre Sophoklesübersetzungen kommen ließ. Im Kommentar zur Oresteia fand ich die tiefsten und nachdenklichsten Gedanken; übrigens ist es eine Wohltat, daß Sie auf die wilde Konjekturalkritik unsrer modernsten Äschylusgelehrten einfach keine Rücksicht genommen haben. Der Dr. Keck, »Dr. Keck, Herausgeber und Verstümmler des Agamemnon ...«, bezieht sich auf: Äschylus, Agamemnon. Griechisch und deutsch, mit Einleitung, einer Abhandlung zu Äschylus, Kritik und Kommentar von Karl Heinrich Keck. Leipzig, Teubner 1863. Herausgeber und Verstümmler des »Agamemnon«, hat in anmaßlicher Weise sich im »Jenaer Literaturblatt« über Sie ausgelassen – diese Herren tun wirklich, als ob einer Hühner gestohlen hätte, wenn jemand, der nicht Philologe ist, sich auf ihrem Pachthofe, dem Altertumsgebiet, sehen läßt. Vom Theater versteht dies Völkchen übrigens nicht die Spur, und ihre Verse versteht kein ehrlicher Mensch. Ich las einmal meinen Schülern die Keckische Übersetzung des »Agamemnon« vor und bemühte mich sehr, – aber endlich lachte ich selbst mit über das verschrobene schwülstige Deutsch, in dem diese kleinen Äschylus-Äffchen sich so großartig fühlen. Gott sei Dank, daß Sie uns von der kauderwelschen Rhythmik befreit haben, in der gewöhnlich griechische Chöre übersetzt werden und die gewiß weder griechisch noch deutsch ist.

Was Shakespeare angeht – kennen Sie das ekelhafte Pamphlet unsres Modephilosöphchens Ed. v. Hartmann gegen »Romeo und Julia«? –

Wir leben in einer wunderlichen Zeit; die deutsche Gesittung knarrt in ihren Angeln, und die Gefahr ist groß.

Verehrungsvoll Ihr
Dr. Friedrich Nietzsche.

Basel, den 14. Juni 1874.


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