Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

77. An Freiherrn von Seydlitz, Salzburg.

Basel, 4. Januar 1878.

Sie sind so gut, lieber, lieber Freund, mit Ihren Wünschen und Verheißungen und ich bin jetzt so arm. Jeder Ihrer Briefe ist ein schönes Stück Lebensfreude für mich, aber ich kann Ihnen nichts, gar nichts dagegen geben. Wieder sind, während der Weihnachtsferien, böse, böse Tage, ja Wochen an mir vorbeigezogen: nun wollen wir sehen, was das neue Jahr kann. Uns zusammenbringen? Ich halte daran fest.

Gestern kam, von Wagner gesandt, der »Parsifal« in mein Haus. Eindruck des ersten Lesens: mehr Liszt als Wagner, Geist der Gegenreformation; mir, der ich zu sehr an das Griechische, menschlich Allgemeine gewöhnt bin, ist alles zu christlich zeitlich beschränkt; lauter phantastische Psychologie; kein Fleisch und viel zuviel Blut (namentlich beim Abendmahl geht es mir zu vollblütig her); dann mag ich hysterische Frauenzimmer nicht; vieles, was für das innere Auge erträglich ist, wird bei der Aufführung kaum auszuhalten sein: denken Sie sich unsere Schauspieler betend, zitternd und mit verzückten Hälsen. Auch das Innere der Gralsburg kann auf der Bühne nicht wirkungsvoll sein, ebensowenig der verwundete Schwan. Alle diese schönen Erfindungen gehören ins Epos und, wie gesagt, fürs innere Auge. Die Sprache klingt wie eine Übersetzung aus einer fremden Zunge. Aber die Situationen und ihre Aufeinanderfolge – ist das nicht von der höchsten Poesie? Ist es nicht eine letzte Herausforderung der Musik?

So viel für heute, nehmen Sie fürlieb. Ihnen und Ihrer lieben Frau Gemahlin

treu ergeben
Ihr Freund Nietzsche.

Basel, d. 4. Januar 1878.

P.S. Lipiner ist, nach seinem Brief an mich, ein guter Wagnerianer; beiläufig sollte man es fast wünschen, er möchte den »Parsifal« noch einmal überdichten.


 << zurück weiter >>