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136. An die Mutter.

Venedig, Montag, den 3. Okt. 1887.

Meine liebe Mutter,

ich danke Dir herzlich für Deinen Brief, der mich erheiterte; auch brachte er sehr gute Nachrichten über unsre Südamerikaner. Es scheint in der Tat, daß das Lama ihrer dortigen Aufgabe auf das tapferste nachkommt, – insgleichen daß sie eine Aufgabe hat, bei der ihre Talente sich frei und natürlich entfalten können: mehr darf man eigentlich vom Leben nicht wünschen. Wenn die Sache gerät, so hat sie (wie mir wenigstens vorkommen will) den Löwenanteil am Gelingen. Die Männer geben in solchen Fällen allerdings die Initiative, aber meistens auch das Malheur hinzu. – Die Zeit bisher in Venedig war im ganzen nicht ungünstig; im Grunde habe ich seit 10 Jahren keinen Ort für den Herbst gewählt, der sich so wohltätig erwiesen hätte wie dies Venedig. Allerdings auch ein Wetter ohne Vergleich; klar, frisch, rein, wolkenlos, fast wie in Nizza. Unseren Gast finde ich besser eingerichtet (würdiger, distinguierter, unabhängiger) als ich es je gewesen bin; die alte vornehme Familie, in deren Haus er wohnt, lebt ganz für ihn, hat seit seinem Wiederkommen die besten Zimmer ihm abgetreten, kocht für ihn: so daß er auch besser genährt ist, als man es sonst im Süden wird. In dieser verbesserten Lage hat er wieder wunderschöne Musik gemacht, die sich auf das glücklichste von dem Wagnerischen Kampf- und Krampfwesen unterscheidet. Wir beide zusammen sind nicht gar zu leicht nach dem lieben Vaterlande zu verführen; die Borniertheit daselbst macht mich lachen; und wenn ich es vielleicht nötig habe, dorthin zurückzukehren (zu gelehrten Zwecken), so werde ich mir erst mit einem naturwissenschaftlichen Sprüchlein Mut machen, zum Beispiel:

»Um das Rhinozeros zu sehn,
»Beschloß nach Deutschland ich zu gehn.« »Um das Rhinozeros zu sehn,
Beschloß nach Deutschland ich zu gehn«, nach dem Anfang der Gellertschen Fabel »Der arme Greis«: »Um das Rhinozeros zu sehn (Erzählte mir mein Freund), beschloß ich auszugehn.«

Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften alles über mein letztes Buch »mein letztes Buch«, »Jenseits von Gut und Böse«. gedruckt worden ist: ein haarsträubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch »höherer Blödsinn«, bald ist es »diabolisch berechnend«, bald verdiente ich, dafür aufs Schafott zu kommen (wenigstens nach der Art der früheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren), bald werde ich als Philosoph der junkerlichen Aristokratie verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als »Dynamit« und Unmensch vorsichtig beiseite getan. Und dies Stück Erkenntnis in bezug auf mich hat ungefähr 15 Jahre Zeit gebraucht; hätte man etwas von meiner ersten Schrift »Geburt der Tragödie« verstanden, so hätte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen können. Aber damals lebte ich unter einem hübschen Schleier und wurde vom deutschen Hornvieh verehrt, gleich als ob ich zu ihm gehörte. Nun, dies hat seine Zeit gehabt. Unzweifelhaft werde ich immer noch einige Jahre früher in Frankreich »entdeckt« sein als im Vaterlande.

Meine Absicht ist, am 21. Okt. von hier nach Nizza überzusiedeln, zu einem langen arbeitsamen Winter.

Dein altes Geschöpf.


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