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96. An die Schwester.

Sils-Maria, Mitte Juli 1881.

Meine liebe Schwester,

Du hast in so vielen Stücken über mich recht, daß ich von Herzen wünsche, Du mögest auch über Dich selber immer recht haben und das Dir Zuträglichste beschließen. Ich denke, Du wirst über den Irrtum vieler Mädchen hinaus sein, welche ihren Zug zur Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit auf dem Wege der Ehe zu befriedigen denken; das Ergebnis ist gewöhnlich ganz wider Erwarten das Umgekehrte, von den seltensten Ausnahmen abgesehen. Dein Leben in Pforta gefällt mir sehr. Sieh Dich nur reichlich um, wo Ort, Menschen und Tätigkeit (Klima nicht zu vergessen) gerade für Dich gemacht zu sein scheinen. So denke ich für meinen Teil auch, und müßte ich selber darüber Europa verlassen. Denn alles, was wir leiden, müssen nicht nur wir, sondern das muß die andre Menschenwelt tragen, – sehen wir also zu, so wenig wie möglich zu leiden.

Ich werde Dich schwerlich abhalten können, meine »Morgenröte« zu lesen: so dachte ich über ein Mittel nach, auch dies für Dich und mich zum besten zu wenden. Lies das Buch also, wenn ich bitten darf, unter einem Gesichtspunkt, den ich allen andern Lesern gerade widerraten würde, aus einem ganz persönlichen Sehwinkel (Schwestern haben zuletzt auch Privilegien). Suche alles heraus, was Dir verrät, was im Grunde Dein Bruder am meisten braucht, am meisten nötig hat, was er will und was er nicht will. Lies dazu namentlich das fünfte Buch, wo vieles zwischen den Zeilen steht. Wohin alles bei mir noch strebt, ist nicht mit einem Worte zu sagen – und hätte ich das Wort, ich würde es nicht sagen. Es kommt auf günstige, aber ganz unberechenbare Umstände an. Meine guten Freunde (und jedermann) wissen eigentlich nichts über mich und haben auch wohl noch nicht darüber nachgedacht; ich selber war immer sehr schweigsam über alle meine Hauptsachen, ohne daß es doch so erschien.

Versorge mich, mein liebes Lama, doch mit schönen Notizbüchern und lege eine Werkstatt dazu an – ich brauche jährlich mindestens 4; feinstes, sehr starkes Papier (weiß), ungefähr 100 Blätter in jedem Buche.

Wenn Du von Menschen hörst, die etwas mir zu Gefallen tun wollen – heiße sie Notizbücher machen. Der Zustand, in dem ich in bezug hierauf lebe, ist schmachvoll. Anbei das Format. Ja nicht größer!

In herzlicher Liebe und mit den besten Grüßen an unsre Mutter

Dein Bruder.

Wie sieht denn mein Buch aus? Mein Verleger, gegen mich taktlos und nachlässig (ich bin seiner müde, und er vielleicht meiner auch), beehrt mich nicht mit einem Exemplar.


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