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102. An Erwin Rohde.

Tautenburg, 15. Juli 1882.

Mein lieber alter Freund, es hilft nichts, ich muß Dich heute auf ein neues Buch von mir vorbereiten; höchstens noch vier Wochen hast Du davor Ruhe! Ein mildernder Umstand ist, daß es das letzte für eine lange Reihe von Jahren sein soll: – denn im Herbst gehe ich an die Universität Wien und fange neue Studentenjahre an, nachdem die alten mir, durch eine zu einseitige Beschäftigung mit Philologie, etwas mißraten sind. Jetzt gibt es einen eigenen Studienplan und hinter ihm ein eigenes geheimes Ziel, dem mein weiteres Leben geweiht ist, – es ist mir zu schwer, zu leben, wenn ich es nicht im größten Stile tue, im Vertrauen gesagt, mein alter Kamerad! Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluten gehalten haben! Dies ist eigentlich meine einzige Entschuldigung für diese Art von Literatur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Rezept und meine selbstgebraute Arzenei gegen den Lebensüberdruß. Welche Jahre! Welche langwierigen Schmerzen! Welche innerlichen Störungen, Umwälzungen, Vereinsamungen! Wer hat denn so viel ausgestanden als ich? Leopardi gewiß nicht! Und wenn ich nun heute über dem allen stehe, mit dem Frohmute eines Siegers und beladen mit schweren neuen Plänen – und, wie ich mich kenne, mit der Aussicht auf neue, schwerere und noch innerlichere Leiden und Tragödien und mit dem Mute dazu! so soll mir niemand darüber böse sein dürfen, wenn ich gut von meiner Arzenei denke, Mihi ipsi scripsi »Mihi ipsi scripsi« vgl. »Menschliches, Allzumenschliches« II Aph. 187. dabei bleibt es; und so soll jeder nach seiner Art für sich sein Bestes tun – das ist meine Moral: – die einzige, die mir noch übriggeblieben ist. Wenn selbst meine leibliche Gesundheit zum Vorschein kommt, wem verdanke ich denn das? Ich war in allen Punkten mein eigener Arzt; und als einer, der nichts Getrenntes hat, habe ich Seele, Geist und Leib auf einmal und mit denselben Mitteln behandeln müssen. Zugegeben, daß andere an meinen Mitteln zugrunde gehen könnten: dafür tue ich auch nichts eifriger, als vor mir zu warnen. Namentlich dieses letzte Buch, welches den Titel führt »Die fröhliche Wissenschaft«, wird viele vor mir zurückschrecken, auch Dich vielleicht, lieber alter Freund Rohde! Es ist ein Bild von mir darin, und ich weiß bestimmt, daß es nicht das Bild ist, welches Du von mir im Herzen trägst.

Also: habe Geduld, und sei es auch nur darum, weil Du einsehen mußt, daß es bei mir heißt: »aut mori aut ita vivere.«

Von ganzem Herzen Dein Nietzsche.

»Tautenburg bei Dornburg, Thüringen«,
Mitte Juli 1882.


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