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11. An Freiherrn von Gersdorff.

Leipzig, Ende Januar 1867.

Mein lieber Freund,

es war ebenfalls in den ersten Tagen des Januar, wo auch ich in Naumburg an einem Sterbebette »Auch ich ... an einem Sterbebette«, Gersdorffs älterer Bruder Ernst war am 5. Jan. 1867 an den Folgen einer Verwundung während des Feldzuges gegen Österreich gestorben. Der Todesfall, auf den Nietzsche anspielt, ist der von seiner Tante Rosalie, der Schwester seines Vaters (vgl. Biogr. I S. 252f.). stand, an dem einer nahen Verwandten, die nächst Mutter und Schwester die nächsten Anrechte auf meine Liebe und Verehrung hatte, die treulich an meinem Lebenswege Anteil genommen hatte und mit der ein ganzes Stück meiner Vergangenheit und vornehmlich meiner Kindheit von uns gewichen ist. Und doch, als ich Deinen Brief empfing, mein lieber, armer, schwergetroffner Freund, ergriff mich ein viel heftigerer Schmerz: war doch auch der Unterschied der beiden Sterbefälle so groß. Dort war ein Leben vollbracht, mit guten Handlungen ausgenützt, mit schwachem Körper bis zum Alter getragen: wir hatten alle die Empfindung, daß die Kräfte des Körpers und Geistes verzehrt waren und daß der Tod nur für unsre Liebe zu früh komme. Aber was schied mit Deinem auch von mir stets bewunderten und verehrten Bruder.

Es schied von uns eine jener seltenen, edlen Römernaturen, auf die Rom in seiner besten Zeit stolz gewesen wäre, auf die Du als Bruder noch viel mehr Anrecht hast stolz zu sein. Denn wie selten bringt unsre erbärmliche Zeit solche Heldengestalten hervor. Aber Du weißt ja, wie die Alten darüber denken: »Der Götter Lieblinge sterben früh.« »Der Götter Lieblinge sterben früh«, aus Menander (fr. 125 Kock): Ον οἱ ϑεοὶ φιλοῦσιν ἀποϑνήσϰει νέος Vgl. Plautus, Bacch. IV, 7, 18: Quem di diligunt adolescens moritur.

Was hätte eine solche Kraft noch tun können. Wie hätte sie als Vorbild eines selbsteignen, rühmlichen Strebens, als Beispiel eines entschiedenen, in sich klaren, um Welt und Weltmeinung unbekümmerten Charakters Tausenden in des Lebens Wirren Stärkung und Trost sein können. Wohl weiß ich, daß dieser vir bonus im schönsten Sinne Dir noch mehr war, daß er Dein anzustrebendes Ideal, wie Du mir oft früher sagtest, Dein sicherer Leitstern für die wechselvollen und durchaus nicht bequemen Bahnen des Lebens war. Vielleicht war dieser Tod der größte Schmerz, der Dich überhaupt treffen konnte. Nun, lieber Freund, Du hast jetzt – das merke ich an dem Tone Deines Briefes – jetzt selbst an Dir erfahren, warum unser Schopenhauer das Leiden und die Trübsale als ein herrliches Geschick, als den δεύτερος πλοῦς zur Verneinung des Willens preist. Du hast auch die läuternde, innerlich beruhigende und festigende Kraft des Schmerzes erfahren und empfunden. Es ist eine Zeit, in der Du selbst erproben kannst, was wahr ist an der Lehre Schopenhauers. Wenn das vierte Buch seines Hauptwerkes jetzt auf Dich einen häßlichen, trüben, lästigen Eindruck macht, wenn es nicht die Kraft hat, Dich zu erheben und Dich aus dem äußeren heftigen Schmerze hindurchzuführen zu jener wehmütigen, aber glücklichen Stimmung, die uns auch beim Anhören edler Musik ergreift, zu jener Stimmung, in der man die irdischen Hüllen von sich abfallen sieht: dann mag auch ich nichts mehr mit dieser Philosophie zu tun haben. Der Schmerzerfüllte kann und darf allein über solche Dinge ein entscheidendes Wort sagen: wir anderen, mitten im Strome der Dinge und des Lebens stehend, jene Verneinung des Willens nur ersehnend als ein glückseliges Eiland, wir können es nicht beurteilen, ob der Trost solcher Philosophie auch für die Zeiten tiefer Trauer ausreicht.

Es wird mir schwer, auf etwas anderes überzugehen: denn ich weiß nicht, ob Dich nicht Erzählungen über mein Geschick und Ergehen in dieser Stimmung verdrießen. Doch wird Dir lieb sein zu hören, daß Einsiedet und ich infolge gemeinsamen Schmerzes jetzt öfter zusammengekommen sind und auf Mittel und Wege sinnen, wie wir Dir eine kleine Freude und Erholung verschaffen können. Überhaupt hast Du an Einsiedel einen sehr teilnehmenden und mitfühlenden Freund; soeben habe ich ihm Deinen schönen, ausführlichen und mit herzlichster Liebe geschriebenen Brief vorgelesen. Wir wünschen beide nichts sehnlicher, als Dich einmal sehen und sprechen zu können.

Mir geht es wohl. Die Arbeit ist groß, aber fruchtbringend, darum erfreuend. Ich schätze ein stetiges und konzentriertes Arbeiten von Tag zu Tage mehr. Augenblicklich versuche ich meine Kräfte an einer Preisaufgabe der hiesigen Universität »de fontibus Diongenis Laertii«; » De fontibus Diogenis Laertii« ist die von der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig am 31. Oktober 1867 gekrönte Preisarbeit Nietzsches, die im Rhein. Mus. Bd. XXII S. 632-653 und Bd. XXIV S. 181-228 veröffentlicht und wieder abgedruckt wurde in Nietzsches Werken Bd. XVII Abt. 3 Bd. I S. 69 ff. ich habe dabei die wohltuende Empfindung, nicht erst durch Anlockung von Ehre und Geld auf dies Thema gekommen zu sein, sondern es mir selbst gestellt zu haben. Das wußte Ritschl und war so gefällig, nachher dies Thema als Preisaufgabe vorzuschlagen. Ich habe einige Mitstreiter, wenn ich recht berichtet bin: doch habe ich in diesem Falle nicht geringes Selbstvertrauen, da ich bis jetzt lauter sehr schöne Resultate gefunden habe. Schließlich kommt es allein auf Förderung der Wissenschaft an: sollte ein anderer noch mehr gefunden haben, so soll mich dies nicht sehr kränken.

Von Deussen habe ich im neuen Jahre Nachricht: er ist wieder Philolog, bravo: und empfindet, wie er selbst schreibt, wieder festen Boden unter sich. Er studiert in Bonn und scheint allmählich in das Fahrwasser zu kommen. Er schickte mir seine Übersetzung eines französischen Buches: »Theodor Parkers Biographie« »Theodor Parkers Biographie« ist die Monographie von Albert Réville: Theodor Parker, sa vie et ses œvres. Paris 1865. »τὶ γάρ ἐστιν ἄνϑρωππς« usw. bei Stobäus, Floril. 98, 60. mit, mit der er sich Geld verdient hat.

Zum Schluß, lieber Freund, bitte ich Dich um eins: belästige Dich nicht mit Briefschreiben. In kurzer Zeit bekommst Du von mir wieder Nachricht in einem recht ausführlichen Briefe, den heute zu schreiben mir nicht möglich ist. Dasselbe läßt Dir auch Einsiedel sagen.

Ich schließe mit einem warmen Lebewohl und einem Spruch des Aristoteles:

τί γάρ ἐστιν ἄνϑρωπος; ἀσϑενείας ὑπόδειγμα,
ϰαιροῦ λάφυρον, τύϗης παίγνιον, μεταπτώσεως
εἰϰών, φϑόνου ϰαὶ σνμφορᾶς πλάστιγξ.

Dein treuer, gleichfalls tief getroffner Freund
Friedrich Nietzsche.

Leipzig, Mittwoch.


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