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124. An Mutter und Schwester.

Nizza, nach Weihnachten 1885.

Meine Lieben,

es ist herrliches Wetter, da muß auch Euer Tier »Euer Tier«, als Nietzsche im Herbst 1885 in Naumburg bei seinen Angehörigen weilte, kam für ihn die scherzhafte Bezeichnung »unser berühmtes Tier« auf. wieder ein fröhliches Gesicht machen, ob es schon recht melancholische Tage und Nächte gehabt hat. Weihnachten geriet aber zu einem Festtage. Mittags bekam ich Eure liebe Sendung zu Händen, und geschwind hing die Kette um den Hals, und das artige Kalenderchen kroch in die Westentasche. Darüber ist nun freilich das »Geld« entschlüpft, wenn nämlich Geld in dem Briefe war (unsre Mutter schreibt davon). Verzeiht es Eurem blinden Tiere, das seinen Kram auf der Straße auspackte: da mag wohl etwas daneben gerutscht sein, denn ich suchte sehr eifrig nach dem Briefe. Hoffentlich ist ein armes altes Weibchen in der Nähe gewesen und hat auf diese Weise ihr »Christkindchen« auf der Straße gefunden. Dann fuhr ich nach meiner Halbinsel St. Jean, lief einen großen Weg um die ganze Küste ab und setzte mich endlich unter junge Soldaten, die Kegel schoben. Frische Rosen und Geranien in den Hecken und alles grün und warm: gar nicht nordisch! Da trank denn Euer Tier drei ganz große Gläser eines süßen Landweins und war beinahe a bitzeli betrunken; wenigstens sagte ich nachher zu den Wellen, wenn sie gar zu heftig heranschnoben, wie man zu den Hühnern sagt »Butsch! Butsch! Butsch!« Dann fuhr ich wieder nach Nizza und aß in meiner Pension zu Abend, fürstlich; auch brannte ein großer Weihnachtsbaum. Denkt Euch, ich habe einen boulanger de luxe gefunden, welcher weiß, was »Quarkkuchen« ist: er erzählte, daß der König von Württemberg sich einen solchen zu seinem Geburtstage bestellt hat. Das fällt mir bei dem Worte »fürstlich« ein. –

Ein paar Tage krank. So blieb der Brief unbeendigt. Dazwischen schrieb Overbeck, daß Rohde einen Ruf nach Leipzig habe. Ob er ihn annimmt? Seltsam, es bewegt mich zu denken, daß jetzt in Leipzig oder seiner Nachbarschaft alles zusammenkommt, was mir das Gefühl gibt, nicht ganz heimatlos zu sein. Im Grunde war es auch diesen Herbst wieder hübsch in Leipzig; ein wenig melancholisch, aber gerade so, wie unsereiner alle Genüsse des Lebens gewürzt findet, mit einem alten kleinen Rosengeruch des Unwiederbringlichen.

Meine Augen werden über kurz oder lang es nur noch in Wäldern aushalten; aber alte Freunde müssen diesen »Wäldern« nahe wohnen. Heißt das nicht – alles gerechnet – »Rosental«? »Rosental«, ausgedehnte Parkanlagen in der Nähe von Leipzig. – Und zuletzt hat man, durch Leipziger Ratsbeschluß, dem Knoblauch den Krieg erklärt (die einzige Form des Antisemitismus, welche Eurem kosmopolitischen Nashorn gut riecht) – Verzeihung!

In alter Liebe
Euer F.

Himmel! Ich vergaß zum neuen Jahre Euch unbändig viel Glück und Gesundheit und Tapferkeit und gute Gedanken und treue Menschen zu wünschen! – –

NB. Ich habe wieder schlafen gelernt (ohne Schlafmittel).


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