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6. An Freiherrn von Gersdorff.

Naumburg, den 7. April 1866.

Lieber Freund,

gelegentlich kommen Stunden jener ruhigen Betrachtung, wo man in Freude und Trauer gemischt über seinem Leben steht, ähnlich jenen schönen Sommertagen, die sich breit und behaglich über die Hügel hinlagern, wie Emerson sie so vortrefflich beschreibt: dann wird die Natur vollkommen, wie er sagt, und wir: dann sind wir frei vom Banne des immer wachenden Willens, dann sind wir reines, anschauendes, interesseloses Auge. In dieser vor allem anderen zu ersehnenden Stimmung nehme ich die Feder zur Hand, um Dir auf Deinen freundlichen und gedankenreichen Brief zu antworten. Unsre gemeinsamen Besorgnisse sind bis zu einem kleinen Reste zusammengeschmolzen: wir haben wieder gesehen, wie von ein paar Federstrichen, schließlich vielleicht sogar von zufälligen Launen einzelner die Geschicke Unzähliger bestimmt werden, und überlassen es gern den Frommen, für diese zufälligen Launen ihrem Gotte Dank zu wissen. Es mag sein, daß uns diese Reflexion zum Lachen stimmt, wenn wir uns in Leipzig wiedersehen.

Von dem individuellsten Gesichtspunkt aus hatte ich mich bereits mit dem militärischen Gedanken vertraut gemacht. Ich wünschte mich öfter herausgerissen aus meinen gleichförmigen Arbeiten, ich war nach den Gegensätzen der Aufregung, des stürmischen Lebensdranges, der Begeisterung begierig. Denn so sehr ich mich auch angestrengt habe, so ist es mir doch täglich deutlicher geworden, daß man eine solche Arbeit nicht aus den Ärmeln schüttelt. Ich habe die Ferien sehr viel – relativ – gelernt, und mein Theognis findet mich nach den Ferien mindestens um ein Semester fortgeschrittner. Dabei habe ich manche einleuchtende Dinge gefunden, die eine Bereicherung meiner quaestiones Theognideae werden sollen. Eingemauert bin ich in Bücher – durch Corssens ungemeine Gefälligkeit. Ebenso muß ich mich über Volkmann äußern, der mich redlich unterstützt hat, besonders mit der ganzen Suidasliteratur, deren Hauptkenner er ist. Ich habe mich so gut in dies Gebiet hineingelebt, daß ich es auch selbständig angebaut habe, indem ich kürzlich den Nachweis fand, warum das Violarium der Eudokia nicht auf Suidas, sondern auf die Hauptquelle des Suidas, eine epitome des Hesychius Milesius (natürlich verloren) zurückgeht: dies gibt für meinen Theognis ein überraschendes Resultat, das ich Dir später einmal darlegen will. Ich erwarte übrigens täglich einen Brief von Dr. Dilthey aus Berlin, einem Schüler Ritschls, der in Theognisfragen mehr wie ein andrer bewandert ist. Ich habe mich ihm ganz geöffnet und ihm weder meine Ergebnisse noch meinen Studentenstand verschwiegen. Ich hoffe, daß ich, in Leipzig angelangt, rüstig an das Niederschreiben gehen kann; ich habe mein Material ziemlich zusammen. Zu leugnen ist es übrigens nicht, daß ich mitunter kaum diese mir selbst aufgelegte Sorge verstehe, die mich von mir selbst abzieht (dazu von Schopenhauer – was oftmals eins ist), mich in ihren Folgen dem Urteile der Leute aussetzt und womöglich gar mich zur Maske einer Gelehrsamkeit zwingt, die ich nicht habe. Man verliert jedenfalls etwas dadurch, daß man gedruckt wird. Manche Aufhaltungen und Verdrießlichkeiten sind nicht ausgeblieben. Die Berliner Bibliothek wollte die Theognisausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts nicht herausrücken. Eine Anzahl sehr nötiger Bücher hatte ich mir von der Leipziger Bibliothek ausgebeten durch Roschers Vermittlung. Roscher aber schrieb mir, daß seine Gewissenhaftigkeit nicht zuließe, Bücher, die auf seinen Namen geschrieben wären, aus der Hand zu geben. Welche Gewissenhaftigkeit zu tadeln mir nicht einfällt, nur kam sie mir unbequem genug.

Drei Dinge sind meine Erholungen, aber seltne Erholungen: mein Schopenhauer, Schumannsche Musik, endlich einsame Spaziergänge. Gestern stand ein stattliches Gewitter am Himmel, ich eilte auf einen benachbarten Berg, »Leusch« genannt (vielleicht kannst Du mir dies Wort deuten), fand oben eine Hütte, einen Mann, der zwei Zicklein schlachtete, und seinen Jungen. Das Gewitter entlud sich höchst gewaltig mit Sturm und Hagel, ich empfand einen unvergleichlichen Aufschwung, und ich erkannte recht, wie wir erst dann die Natur recht verstehen, wenn wir zu ihr aus unsern Sorgen und Bedrängnissen heraus flüchten müssen. Was war mir der Mensch und sein unruhiges Wollen! Was war mir das ewige »Du sollst«, »Du sollst nicht«! Wie anders der Blitz, der Sturm, der Hagel: freie Mächte, ohne Ethik! Wie glücklich, wie kräftig sind sie, reiner Wille, ohne Trübungen durch den Intellekt!

Dagegen habe ich Beispiele genug erfahren, wie trübe oftmals der Intellekt bei den Menschen ist. Neulich sprach ich einen, der als Missionar in Kürze ausgehen wollte – nach Indien. Ich fragte ihn etwas aus; er hatte kein indisches Buch gelesen, kannte den Oupnekhat nicht dem Namen nach und hatte sich vorgenommen, mit den Brahmanen sich nicht einzulassen, – weil sie philosophisch durchgebildet wären. Heiliger Ganges!

Heute hörte ich eine geistreiche Predigt Wenkels über das Christentum, »Der Glaube, der die Welt überwunden hat«, unerträglich hochmütig gegen alle Völker, die nicht Christen sind, und doch wieder sehr schlau. Alle Augenblicke nämlich substituierte er dem Worte Christentum etwas anderes, was immer einen richtigen Sinn gab, auch für unsre Auffassung. Wenn der Satz »das Christentum hat die Welt überwunden« mit dem Satz »das Gefühl der Sünde, kurz, ein metaphysisches Bedürfnis hat die Welt überwunden« vertauscht wird, so hat das für uns nichts Anstößiges, man muß nur konsequent sein und sagen »die wahren Inder sind Christen« und auch: »die wahren Christen sind Inder«. Im Grunde aber ist die Vertauschung solcher Worte und Begriffe, die einmal fixiert sind, nicht recht ehrlich; es werden nämlich die Schwachen im Geiste vollends verwirrt. Heißt Christentum »Glaube an ein geschichtliches Ereignis oder an eine geschichtliche Person«, so habe ich mit diesem Christentum nichts zu tun. Heißt es aber kurz Erlösungsbedürftigkeit, so kann ich es höchst schätzen und nehme ihm selbst das nicht übel, daß es die Philosophen zu disziplinieren sucht: als welche zu wenige sind gegen die ungeheure Masse der Erlösungsbedürftigen, zudem aus gleichem Stoffe gemacht. Ja und wären alle, die Philosophie treiben, Anhänger Schopenhauers! Aber nur zu oft steckt hinter der Maske des Philosophen die hohe Majestät des »Willens«, der seine Selbstverherrlichung ins Werk zu setzen sucht. Herrschen die Philosophen, so wäre τὸ πλῆϑος verloren; herrscht diese Masse, wie jetzt, so steht es dem Philosophen, raro in gurgite vasto, immer noch zu, δίχα ἄλλων wie Äschylus, φϱονέειν. δίχα ἄλλων« usw. vgl. Äschylus, Ag. 757: δίχα δ'ἄλλων μονόφρων εἰμί.

Dabei ist es für uns allerdings höchst lästig, unsre noch jungen und kräftigen Schopenhauergedanken so halb ausgesprochen zurückzuhalten und im ganzen diese unglückliche Differenz zwischen Theorie und Praxis immer auf dem Herzen lasten zu haben. Wofür ich gar keinen Trost weiß, im Gegenteil trostesbedürftig bin. Mir ist es so, als müßten wir den Kern milder beurteilen. Er steckt auch in dieser Kollision.

Damit lebe wohl, lieber Freund, empfiehl mich Deinen Angehörigen, wie die meinen Dich bestens grüßen lassen; und es bleibt dabei, wenn wir uns wiedersehen, so lächeln wir – mit Recht.

Dein Freund Friedrich Nietzsche.

7. Apr. 1866. Naumburg.


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