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21. An Erwin Rohde.

Leipzig, 22. und 28. Februar 1889.

Mein lieber Freund,

heute am Geburtstage Schopenhauers habe ich niemanden, mit dem ich so vertraut reden könnte als mit Dir. Ich lebe nämlich hier in der aschgrauen Wolke der Einsamkeit, und dies um so mehr, als ich von vielen Seiten mit geselligen Armen aufgenommen werde und fast Abend für Abend dem traurigen Zwange der Einladungen Folge leiste. In diesen Gesellschaften höre ich so viele Stimmen und komme gar nicht zu mir selber; wie ist es nur möglich, dieses summende Geräusch auszuhalten? Oder verletzt es mich bloß, weil ich die Ohren der Kalliope habe. Aber es erinnert an die Mücke, jenes Geräusch, und Du weißt, daß die Mücke das musikalische Untier ϰατ' ἐξοχήν ist, weil zwei Mücken zusammen immer in der kleinen Sekunde singen. Menschen, mit denen man auf den Einklang gestimmt ist oder deren Reden wie schöne Terzen neben den meinigen auf und nieder steigen, habe ich gar nicht an Ort und Stelle; und selbst der vortreffliche ***, der, wie ich merke, den herzlichen Wunsch hat, mir etwas mehr zu sein als ein guter Bekannter, bleibt meinem Gefühle, ich weiß nicht warum, doch recht fern. Also Einsamkeit habe ich nicht erst in Basel zu lernen. –

Es sind wieder ein paar Tage ins Land gegangen, und mein Brief an Dich ist nicht fertig geworden. Heute aber werde ich lebhaft wieder an jene Stimmung erinnert, in der ich ihn begann, heute, wo ich als Erinnerung an den Geburtstag Schopenhauers eine Photographie unsers Meisters durch die Liebenswürdigkeit Wiesikes zugeschickt bekommen – zugleich mit der Einladung, einmal persönlich in Plaue (in der Nähe von Brandenburg) zu erscheinen. Da hat nämlich dieser alte Hahn zur Feier des 22. Februars sich eine Anzahl Schopenhauerfreunde aus Berlin zusammengeladen, darunter meinen Freund Gersdorff; alle haben sich gefreut, daß einer ihrer Leute Professor geworden ist und haben dessen Wohl in Steinberger 57er getrunken. Erinnert das nicht an die ersten Christengemeinden und ihre Trunkenheit in süßem Weine? Als Motto für jenen Tag hatte sich jene Gesellschaft folgenden Spruch gewählt: »Wie sollte es töricht sein, »Wie sollte es töricht sein, stets dafür zu sorgen ...«, aus Schopenhauers Nachlaß, hrsg. von Frauenstädt, Leipzig 1864, Aphorismen und Fragmente S. 447. stets dafür zu sorgen, daß man die allein sichere Gegenwart möglichst genieße, da ja das ganze Leben nur ein größeres Stück Gegenwart und als solches ganz vergänglich ist?« Bei Tisch ist der bewußte Silberpokal mit Glanz aufgetreten, der »Onkel« hat eine kleine Rede geredet, und nach dem Braten ist ein Kapitel aus Schopenhauers Nachlaß vorgelesen worden.

Auch der heutige Tag soll zu Ehren eines Meisters gefeiert werden. Ich bin nämlich zu einem Privatsouper im Hotel de Pologne eingeladen, um dort Franz Liszts Bekanntschaft zu machen. Neuerdings bin ich mit meinen Ansichten über Zukunftsmusik usw. etwas hervorgetreten und werde jetzt von den Anhängern derselben stark angebohrt. Sie wünschen nämlich, daß ich mich literarisch in ihrem Interesse beteilige, ich aber für mein Teil habe nicht die geringste Lust, wie eine Henne gleich öffentlich zu gackern; und es kommt hinzu, daß meine Herren Brüder in Wagnero meistens doch gar zu dumm sind und ekelhaft schreiben. Das macht, sie sind im Grunde mit jenem Genius schlechterdings nicht verwandt und haben keinen Blick für die Tiefe, sondern nur für die Oberfläche. Daher die Schmach, daß die Schule sich einbildet, der Fortschritt in der Musik bestünde gerade in den Dingen, die Wagners höchst eigenartige Natur wie Blasen hier und da aufwirft. Für das Buch »Oper und Drama« ist keiner der Kerle reif. – Ich habe Dir noch nichts erzählt von der ersten »Meistersinger«-Aufführung in Dresden, von dieser größten künstlerischen Schwelgerei, die mir dieser Winter gebracht hat. Weiß Gott, ich muß doch ein tüchtiges Stück von Musiker im Leibe haben; denn in jener ganzen Zeit hatte ich die stärkste Empfindung, plötzlich zu Hause und heimisch zu sein, und mein sonstiges Treiben erschien wie ein ferner Nebel, aus dem ich erlöst war. Jetzt nun steht mir so ein tiefer, schwerer Nebel wieder bevor. Ich habe für das Sommersemester zwei Vorlesungen angekündigt: priv. Geschichte der griechischen Lyrik mit Interpretation auserwählter Proben, publ. Methodik und Quellenkunde der griechischen Literaturgeschichte. Sodann habe ich den ganzen griechischen Unterricht in der dortigen Prima zu geben, und auch das philologische Seminar wird seine Zeit und Mühe beanspruchen. Und vor allem die Einsamkeit, die Einsamkeit ἄφιλος ἄλνρος! Augenblicklich lebe ich zerstreut, ja genußsüchtig ein verzweifeltes Carnevale vor dem großen Aschermittwoch des Berufs, der Philisterei. Es geht mir nahe, – aber keiner meiner hiesigen Bekannten merkt etwas davon. Die lassen sich blenden durch den Titel Professor und glauben, ich sei der glücklichste Mensch unter der Sonne.

Liebster Freund, ich empfinde es immer mit dem tiefsten Mißmut, daß wir nicht zusammen leben können. Wir beide sind Virtuosen auf einem Instrument, das andre Menschen nicht anhören mögen und können, das uns aber tiefstes Entzücken bringt; und nun setzen wir uns jeder an eine einsame Küste, Du im Norden, ich im Süden, und sind beide unglücklich, weil wir den Zusammenklang unsrer Instrumente vermissen und uns danach sehnen. –

Nach diesem Adagio sollte billigerweise ein Scherzo folgen; hier hast Du eins. Vater Rischl hat sich neulich ausführlich über Deinen Ïíïò ausgesprochen: natürlich hat er ihn im Manuskript gar nicht gelesen. »Das ist ein Academicus!« sagte er und war ganz glücklich. Offenbar war seine Stimmung völlig umgeschlagen; er rühmte nicht nur die schöne έϑοδος und die ausgesuchte Gelehrsamkeit, sondern auch den geistreichen, weltmännischen Ton, mit dem sich jener Esel vernehmen läßt. Engelmann übrigens, jener ausgezeichnete Verleger und höchst achtbare Mensch, hat sich mehrfach angeboten, ja mir einen Besuch gemacht, so daß auch ich für meine Zukunftsschriften nicht erst nach Verlegern zu suchen habe. Hier, lieber Freund, haben wir beide einen guten Fang getan.

Du hast übrigens einen Menschen glücklich gemacht, der heißt Wilhelm Roscher. Er sprang und jubelte und kam zu mir gelaufen, als er Deinen Brief bekam.

Zum Schluß noch ein guter Rat vom alten Ritschl. Hast Du nicht Lust, Dich in Göttingen (statt in Kiel) zu habilitieren? R. hält dies für sehr angetan, aus vielen Gründen.

Und so lebe wohl und verzeih dem Freunde, der sehr viel an Dich denkt und doch so selten schreibt. Ich bleibe noch bis zum 15. März in Leipzig.

F. N.


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