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12. An Freiherrn von Gersdorff.

Naumburg, 6. April 1867.

Mein lieber Freund,

mein langes Stillschweigen hat Gott weiß worin seine Ursache. Denn nie bin ich dankbarer und freudiger gestimmt, als wenn Deine Briefe ankommen und mir von Deinen Erlebnissen und Stimmungen treue Kunde geben. Sehr oft kommt die Gelegenheit, von Dir zu sprechen; als welche ich nie vorübergehen lasse. Noch häufiger läuft mein Gedanke zu Dir, wenn ich gerade mitten drin in Büchern stecke und an alle möglichen gelehrten Dinge denken sollte, die Dir mit Recht etwas abschmeckend sind. Und trotzdem schreibe ich nicht. Mitunter wundere ich mich selbst darüber. Jetzt eben fällt mir ein, was der Grund sein wird. Die Hand, die den ganzen Tag schreibt, das Auge, das von früh bis abend weißes Papier schwarz werden sieht, verlangt nach Abwechslung oder Ruhe. Heute aber am ganzen Nachmittag mußten Suidas und Laertius warten, weil ich Besuch hatte: darum werden sie auch heute abend warten müssen. Warum geben sie ihr Regiment aus den Händen? Mögen sie nun den Nachteil haben, ich habe wenigstens einen Vorteil dabei, ich kann mich mit meinem lieben Freunde brieflich unterhalten und brauche nicht die beiden alten Knaben zu beaufsichtigen, deren Torheiten mich für gewöhnlich beschäftigen.

In diesen Ferien nämlich will ich meine Arbeit über die Quellen des Laertius zu Papier bringen und stehe jetzt noch ziemlich in den Anfängen. Ich will zu Deiner Belustigung gestehen, was mir die meiste Mühe und Sorge macht: mein deutscher Stil (vom lateinischen nicht zu reden: habe ich mich mit der Muttersprache auseinandergesetzt, so sollen auch fremde Sprachen daran kommen). Mir fallen die Schuppen von den Augen: ich lebte allzulange in einer stilistischen Unschuld. Der kategorische Imperativ »Du sollst und mußt schreiben« hat mich aufgeweckt. Ich suchte nämlich, was ich nie gesucht hatte außer auf dem Gymnasium: gut zu schreiben, und plötzlich erlahmte die Feder in der Hand. Ich konnte es nicht und ärgerte mich. Dazu dröhnten mir die Ohren von Lessingschen, Lichtenbergschen, Schopenhauerschen Stilvorschriften. Ein Trost war mir immer, daß diese drei Autoritäten einstimmig behaupten, es sei schwer, gut zu schreiben, von Natur habe kein Mensch einen guten Stil, man müsse arbeiten und hartes Holz bohren, ihn zu erwerben. Ich möchte wahrhaftig nicht wieder so hölzern und trocken, nach der logischen Schnürbrust schreiben, wie ich es z. B. in meinem Theognisaufsatz getan habe: an dessen Wiege keine Grazien gesessen haben (vielmehr brummte es aus der Ferne wie von Königgrätz her). Es wäre sehr unglücklich, nicht besser schreiben zu können und es doch warm zu wünschen. Vor allem müssen wieder einige muntere Geister in meinem Stil entfesselt werden, ich muß darauf wie auf einer Klaviatur spielen lernen, aber nicht nur eingelernte Stücke, sondern freie Phantasien, so frei wie möglich, aber doch immer logisch und schön.

Zweitens beunruhigt mich ein andrer Wunsch. Einer meiner ältesten Freunde, Wilhelm Pinder aus Naumburg, steht jetzt dicht vor seinem ersten juristischen Examen; die wohlbekannten Ängste in solchen Zeitläuften kennen wir auch. Aber was mir gefällt, ja mich zur Nachahmung anstachelt, liegt nicht im Examen, sondern in der Vorbereitung dazu. Wie nützlich, ja wie erhebend muß es sein, etwa in einem Semester alle Disziplinen seiner Wissenschaft an sich Vorübermarschieren zu lassen und somit wirklich einmal eine Gesamtanschauung über dieselbe zu bekommen. Ist es nicht ebenso, als ob ein Offizier, stets nur gewöhnt, seine Kompagnie einzuexerzieren, plötzlich in einer Schlacht zum Begriffe dessen kommt, was seine kleinen Bemühungen für große Früchte zeitigen können. Denn wir wollen es nicht leugnen, jene erhebende Gesamtanschauung des Altertums fehlt den meisten Philologen, weil sie sich zu nahe vor das Bild stellen und einen Ölfleck untersuchen, anstatt die großen und kühnen Züge des ganzen Gemäldes zu bewundern und – was mehr ist – zu genießen. Wann, frage ich, haben wir doch einmal jenen reinen Genuß unsrer Altertumsstudien, von dem wir leider oft genug reden.

Drittens ist überhaupt unsre ganze Art zu arbeiten entsetzlich. Die 100 Bücher vor mir auf dem Tische sind ebenso viele Zangen, die den Nerv des selbständigen Denkens ausglühen. Ich glaube, lieber Freund, Du hast mit kühnem Griff das allerbeste Los gewählt. Nämlich einen wirksamen Kontrast, eine umgedrehte Anschauungsweise, eine entgegengesetzte Stellung zum Leben, zum Menschen, zur Arbeit, zur Pflicht. Ich lobe wahrhaftig damit nicht Deinen jetzigen Beruf als solchen, sondern nur, soweit er Negation Deines vorigen Lebens, Strebens, Denkens war. Unter solchen Kontrasten bleibt Seele und Leib gesund und bringt nicht jene notwendigen Krankheitsformen hervor, die sowohl das Übergewicht gelehrter Tätigkeit als das übermäßige Vorherrschen der körperlichen erzeugen, die der Gelehrte so gut als der Bauerntölpel hat. Nur daß bei diesem diese Krankheiten anders sich zeigen als bei jenem. Die Griechen waren keine Gelehrten, sie waren aber auch nicht geistlose Turner. Müssen wir denn so notwendig eine Wahl zwischen der einen oder andern Seite treffen, ist vielleicht hier auch durch das »Christentum« ein Riß in die Menschennatur gekommen, den das Volk der Harmonie nicht kannte? Sollte nicht das Bild eines Sophokles jeden »Gelehrten« beschämen, der so elegant zu tanzen und Ball zu schlagen verstand und dabei doch auch einige Geistesfertigkeiten aufzeigte. Doch es geht uns in diesen Dingen, wie es uns im ganzen Leben geht: wir bringen es schon zur Erkennung eines Übelstandes, aber damit ist auch noch kein Finger gerührt, ihn zu beseitigen. Und hier könnte ich wirklich ein viertes Lamento beginnen: als welches ich vor meinem militärischen Freunde zurückhalte. Denn einem Krieger müssen solche Klagen viel mehr zuwider sein als einem Stubenhocker, als ich jetzt bin.

Da fällt mir eine jüngsterlebte Geschichte ein, die zwar eine Illustration der gelehrten Krankheitsformen ist und als solche verschwiegen werden dürfte, die Dich aber amüsieren wird, weil sie nur die Übersetzung des Schopenhauerschen Aufsatzes »über die Philosophieprofessoren« in die Wirklichkeit zu sein scheint.

Es gibt eine Stadt, in der ein junger Mann, »ein junger Mann« ist Nietzsche selbst. Die als Dissertation gedachte Arbeit »Über die Grundschemen der Vorstellung« scheint nicht mehr vorhanden zu sein. mit besonderen Denkfähigkeiten ausgerüstet und besonders zu philosophischer Spekulation befähigt, den Plan faßt, sich die Doktorwürde zu erwerben. Zu diesem Zwecke stellt er sein in einigen Jahren mühsam zusammengedachtes System »über die Grundschemen der Vorstellung« zusammen und ist glücklich und stolz, es getan zu haben. Mit solchen Gefühlen überreicht er es der philosophischen Fakultät jenes Ortes, an dem sich zufällig eine Universität befindet. Zwei Philosophieprofessoren haben ihr Gutachten abzugeben und geben es dahin ab, daß der eine äußert, die Arbeit zeige Geist, aber vertrete Anschauungen, die hier gar nicht gelehrt würden, der andre aber erklärt, die Ansichten entsprächen nicht dem gemeinen Menschenverstand und wären paradox. Somit wurde die Arbeit zurückgewiesen und dem Betreffenden der Doktorhut nicht aufgesetzt. Glücklicherweise ist der Betroffene nicht demütig genug, in diesem Urteil die Stimme der Weisheit zu hören, ja ist so übermütig zu behaupten, daß eine gewisse philosophische Fakultät die philosophische facultas vermissen lasse.

Kurzum, lieber Freund, man kann nicht selbständig genug seine Bahnen gehn. Die Wahrheit wohnt selten dort, wo man ihr Tempel gebaut und Priester ordiniert hat. Was wir gut oder dumm machen, das haben wir auszubaden, nicht diejenigen, die uns den guten oder dummen Rat erteilen. Man lasse uns doch wenigstens das Vergnügen, eine Dummheit aus freien Stücken zu begehen. Ein allgemeines Rezept, wie jedem Menschen zu helfen ist, gibt es nicht. Man muß an sich selbst sein Arzt sein, zugleich aber auch an sich die ärztlichen Erfahrungen sammeln. Wir denken wirklich an unser Wohl zu wenig: unser Egoismus ist nicht klug genug, unsre Vernunft nicht egoistisch genug.

Damit, lieber Freund, sei es heute genug. Leider habe ich Dir gar nichts »Solides«, »Reelles« oder wie sonst die Schlagwörter der jungen Kaufleute heißen, zu berichten: aber Du wirst auch nicht danach verlangen. Daß ich mich mit Dir freue, wenn Du einen unsrer Gesinnungsgenossen entdeckst und dazu noch so einen tüchtigen und liebenswerten wie Krüger – das versteht sich. Unsre Freimaurerei »Unsre Freimaurerei« ist die Verehrung für Schopenhauer. mehrt sich und breitet sich aus, obschon ohne Abzeichen, Mysterien und Bekenntnisformeln.

Es ist späte Nacht, und draußen heult der Wind. Du weißt, daß ich in Leipzig auch im nächsten Semester bleiben werde. Meine Wünsche tragen mich, den Philologen, nach Paris in die kaiserliche Bibliothek, wohin ich vielleicht im nächsten Jahre abgehe, wenn bis dahin der Vulkan nicht ausgebrochen ist. Mich, den Menschen, aber tragen meine Gedanken oft genug und so auch heute Nacht zu Dir, dem ich hiermit von Herzen »Gute Nacht« sage.

Friedrich Nietzsche
in treuer Freundschaft.

Naumburg, den 6. April: als welchen Ort ich am 30. April verlassen werde. Meine neue Wohnung in Leipzig, Weststraße 59, 2. Etage.


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