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9. An Freiherrn von Gersdorff.

Leipzig, Juli 1866.

Lieber Freund,

Du hast wohl eine schleunigere Beantwortung Deines Briefes und auch mit Recht erwartet. Aber ich war ein paar Tage verreist und komme also erst heute dazu, Dir meinen Dank und meine Freude über Deinen Brief auszusprechen. Wie schnell laufen jetzt die Ereignisse. Was liegt zwischen dem Tage Deines Schreibens und dem heutigen für eine Fülle von Erlebnissen, von großen freudigen Erlebnissen. Ich kann nicht abstreiten, daß ich in den Wochen der böhmischen Aktion mit der lebhaftesten Besorgnis Deiner Brüder gedachte; nun habe ich jetzt von Deinem ältesten Bruder Nachricht. Er ist verwundet, am Kopf, aber nicht schwer. Dagegen ist mir von einem Soldaten, der hier im Lazarett liegt, über seine massive Tapferkeit berichtet worden, daß ich mich auch in Deine Seele hinein sehr gefreut habe. Der Soldat sagte, sie hätten seinem Ungestüm gar nicht nachkommen können; er sei immer vorweg gewesen und sei im Kampfe mit dreien durch einen Säbelhieb verwundet worden. Das wird für Dich eine schwere Zeit der Aufregung gewesen sein. Aber stolz müssen wir sein, eine solche Armee zu haben, ja sogar – horribile dictu – eine solche Regierung zu besitzen, die das nationale Programm nicht bloß auf dem Papiere hat, sondern mit der größten Energie, mit ungeheurem Aufwand an Geld und Blut, sogar gegenüber dem französischen großen Versucher Louis le diable, aufrechterhält. Im Grunde ist jede Partei, die diese Ziele der Politik gutheißt, eine liberale, und so vermag ich auch in der bedeutenden konservativen Masse des Abgeordnetenhauses nur eine neue Schattierung des Liberalismus zu sehen. Denn ich vermag nicht zu glauben, daß diese Männer sämtlich nur Regierungsmänner sind, Leute, die blindlings jeder regierenden Gewalt sich anschmiegen und etwa 6 Monate vorher in Östreich den Hort der konservativen Interessen erblicken, 6 Monate später aber einem nationalen Krieg gegen dasselbe die Mittel bewilligen. Es schadet aber gar nichts, wenn der Name »konservativ« für unsre Regierungsform beibehalten wird. Für die Einsichtigen ist es ein Name, für die Vorsichtigen ein Versteck, endlich für unsern vortrefflichen König eine Art Tarnkappe, die ihm selbst seine Augen verhüllt und ihn auf seinen freisinnigen und erstaunlich kühnen Pfaden ruhig weitergehen läßt.

Immerhin kommt jetzt erst, wo das Ausland sich auf das bedenklichste einzumischen beginnt, die große Prüfezeit, die Feuerprobe für den Ernst des nationalen Programms. Jetzt muß man erkennen, wieviel unter dieser Firma sich an rein dynastischen Interessen verbirgt. Ein Krieg gegen Frankreich muß ja eine Gesinnungseinheit in Deutschland hervorrufen; und wenn die Bevölkerungen eins sind, dann mag sich Herr von Beust samt allen mittelstaatlichen Fürsten einbalsamieren lassen. Denn ihre Zeit ist vorbei.

Niemals seit 50 Jahren sind wir der Erfüllung unsrer deutschen Hoffnungen so nahe gewesen. Ich beginne allmählich zu begreifen, daß es doch wohl keinen anderen, milderen Weg gab als den entsetzlichen eines Vernichtungskrieges. Die Zeit ist noch nicht fern, wo die Ansicht von Corssen, »daß nur auf Östreichs Trümmern sich die deutsche Zukunft erbaue«, für entsetzlich rot galt. Nun zertrümmert sich aber so ein altes Gebäude nicht so leicht. Mag es noch so baufällig sein, so wird es doch immer »gute und getreue« Nachbarn geben, welche es stützen; es könnten ja ihre eignen Häuser bei seinem Sturz einen Schaden erleiden. Dies, angewandt auf unsre europäischen Zustände, ist die napoleonische Lehre vom Gleichgewicht, einem Gleichgewicht, wo das Zentrum in Paris liegen soll. An dieses Zentrum appelliert das bedrängte Östreich. Und solange in Paris das Zentrum ist, wird es in Europa im ganzen beim alten bleiben. Es wird also unsern nationalen Bestrebungen nicht erspart bleiben, europäische Zustände umzuwälzen, jedenfalls ihre Umwälzung zu versuchen. Mißlingt es, so haben wir beide hoffentlich die Ehre, von einer französischen Kugel getroffen auf dem Kampfplatz zu fallen.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen, die jetzt übrigens ein jeder anstellt, komme ich auf die Leipziger und schließlich auf meine Zustände. Du hast hoffentlich im »Daheim« die zwei ausgezeichneten Bilder gesehen »Preußische Kriegsknechte mit den Töchtern des Landes verkehrend«, Szenen aus dem Pleißenburghofe, wie sie die Wirklichkeit jeden Abend bietet. Das ist eine Illustration unsrer Leipziger Verhältnisse. Man ist nun einmal hier eines lebhaften Hasses wie einer lebhaften Zuneigung nicht recht fähig. Aber gemütlich ist man unter allen Umständen, und man fügt sich. Ich habe mich bei einem Soldaten Deines Regiments nach Deinem Herrn Schwager erkundigt und mir von Spandau erzählen lassen.

Eine Erholung seltner Art haben wir hier inmitten der aufregendsten Ereignisse gehabt, das ungewöhnlich lange Gastspiel der Hedwig Raabe, die vom Leipziger Publikum als »blonder Engel« förmlich angebetet wird. Ihren Gipfelpunkt erreichte die Freude, als sie mit Devrient zusammen in der »Waisen von Lowood« auftrat. Sie lebt übrigens seit einiger Zeit bei einer ihr befreundeten Familie in Gohlis, und zwar bei niemand anderem als meinem Onkel. Ich ärgere mich gewaltig, daß ich im vorigen Winter diese Familie so vernachlässigt habe. Ich ertrage es jetzt als eine Strafe meiner ungeselligen Gesinnung.

Nun wirst Du auch wissen wollen, was mein Theognis »Mein Theognis«, seine damaligen Studien über Theognis hat Nietzsche zusammengefaßt in der Abhandlung »Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung«; sie wurde veröffentlicht im Rhein. Mus. f. Philologie, N. F. Bd. XXII (1867) S. 161-200 und wieder abgedruckt in Nietzsches Werken Bd. XVII Abt. 3 Bd. I S. 1-53. macht. Vor zwei Wochen bekam ich die römische Kollation; vorgestern kam ich nachts von einer Reise zurück und fand einen Brief von Ritschl vor mit der Notiz: »Theognidea Parisina praesto sunt teque expectant.« Ich holte sie mir denn am folgenden Mittag ab und erfuhr dabei Wichtiges. Zwei Gelehrte nämlich beabsichtigen eine neue Ausgabe des Theognis, dessen gesamte codices sie neu verglichen haben. Also periculum in mora. Ritschl empfahl mir also, einstweilen von einer Ausgabe abzustehn und meine Ergebnisse möglichst schnell in Form eines Aufsatzes drucken zu lassen. Er bot mir dazu das Rheinische Museum für Philologie an. Ich bin über diese Wendung sehr glücklich. Denn ich hatte schon den ganzen Plan aufgegeben und wußte doch nicht recht, wie ich mich meiner Verpflichtungen gegen Ritschl entledigen sollte. So ist es vortrefflich. In drei Wochen muß der Aufsatz fertig sein. Dann wird er, wie Ritschl versprochen hat, sehr schnell gedruckt. Dann habe ich die Hand für nächstes Semester frei und brauche nicht in Leipzig zu bleiben, übrigens ist Ritschl jetzt liebenswürdiger als je und hat mir auch z. B. im Vertrauen mitgeteilt, daß meine Aufstellung der codices-Gruppen auch nach den neuesten Untersuchungen sich durchaus bestätige.

Jetzt will ich Dir noch von Deussen einiges mitteilen, der Dir seine Grüße sendet. Woher? Aus Tübingen. Als was? Als theologus, und zwar als unwiderruflicher. Ich schrieb ihm einen Brief mit den triftigsten Gründen. Aber es scheint bei ihm Sache des Willens zu sein: da wirken die Gründe nicht mehr. Er schrieb mir z. B., »ich sollte ihm folgende Möglichkeiten widerlegen: es könnte ja doch einen Gott geben, dieser Gott könnte sich doch offenbart haben, diese Offenbarung könnte ja in der Bibel enthalten sein«. Heiliger Brahma! Wenn man seinen Lebenslauf bestimmen soll auf drei solche Möglichkeiten hin! Und die soll ich noch widerlegen!

Nun lebe recht wohl. Niemals habe ich soviel Deiner gedacht wie jetzt – schon weil ich trotz meiner vielen Bekanntschaften etwas vereinsamt bin –, aber ich fürchte, daß ich die nächste Zeit fortwährende Besorgnisse für Dich haben muß. Mich will man nicht zum Soldat haben. Teile mir doch, wenn Du zur Armee abgehst, es ganz kurz mit. Meine Adresse ist, wie immer, Elisenstraße 7.

Ich soll Dir auch noch von Brockhaus viele herzliche Grüße sagen, ebenso vom Vetter.

Zum Schluß unser beiderseitiges Motto:

ϰάλλιστον τὸ διϰαιότατον, λῷστον δ' ὑγιαίνειν,
πρῆγμα δὲ τερπνότατον τοῦ τις ἐρᾷ τὸ τνχεῖν.
ϰάλλιστον τἰ διϰαιότατον« usw. ist aus Theognis S. 255 f.

Dein Freund F. W. N.
philologischer Lumpensammler.


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