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65. An Malwida von Meysenbug.

Basel, 25. Oktober 1874.

Endlich, verehrtestes Fräulein, komme ich wieder dazu, Ihnen etwas von mir zu erzählen, nämlich dadurch, daß ich Ihnen wieder etwas Neues von mir überreiche. »wieder etwas Neues überreicht«, die 3. Unzeitgemäße Betrachtung »Schopenhauer als Erzieher«. Aus dem Inhalte dieser letzten Schrift werden Sie genug von dem erraten, was ich inzwischen in mir erlebt habe. Auch daß es mit mir im Verlaufe des Jahres mitunter viel schlechter und bedenklicher stand, als im Buche zu lesen steht. In summa aber doch, daß es geht, vorwärts geht und daß es mir nur gar zu sehr am Sonnenscheine des Lebens fehlt; sonst würde ich sagen müssen, daß es mir gar nicht besser gehen könnte, als es geht. Denn es ist gewiß ein hohes Glück, mit seiner Aufgabe schrittweise vorwärtszukommen – und jetzt habe ich drei von den 13 Betrachtungen fertig, und die vierte spukt im Kopfe; wie wird mir zumute sein, wenn ich erst alles Negative und Empörte, was in mir steckt, aus mir herausgestellt habe, und doch darf ich hoffen, in 5 Jahren ungefähr diesem herrlichen Ziele nahe zu sein! Schon jetzt empfinde ich mit wahrem Dankgefühle, wie ich immer heller und schärfer sehen lerne– geistig! (leider nicht leiblich!) und wie ich mich immer bestimmter und verständlicher aussprechen kann. Wenn ich in meinem Laufe nicht völlig irregemacht werde oder selber erlahme, so muß etwas bei alledem herauskommen. Denken Sie sich nur eine Reihe von 50 solcher Schriften wie meine bisherigen vier, alle aus der inneren Erfahrung heraus ans Licht gezwungen, – damit müßte man doch schon eine Wirkung tun, denn man hätte gewiß vielen Menschen die Zunge gelöst und es wäre genug zur Sprache gebracht, was die Menschen nicht so bald wieder vergessen könnten und was gerade jetzt wie vergessen, wie gar nicht vorhanden erscheint. Und was sollte mich in meinem Laufe stören? Selbst feindselige Gegenwirkungen werden mir jetzt zu Nutzen und Glück: denn sie klären mich oftmals schneller auf als die freundlichen Mitwirkungen; und ich begehre nichts mehr, als über das ganze höchst verwickelte System von Antagonismen, aus denen die »moderne Welt« besteht, aufgeklärt zu werden. Glücklicherweise fehlt es mir an jedem politischen und sozialen Ehrgeize, so daß ich von da aus keine Gefahren zu befürchten habe, keine Abziehungen, keine Nötigung zu Transaktionen und Rücksichten; kurz, ich darf heraussagen, was ich denke, und ich will einmal erproben, bis zu welchem Grade unsre auf Gedankenfreiheit stolzen Mitmenschen freie Gedanken vertragen. Ich fordere vom Leben nicht zu viel und nichts Überschwängliches; dafür bekommen wir alle in den nächsten Jahren etwas zu erleben, worum uns alle Vor- und Nachwelt beneiden darf. Ebenfalls bin ich mit ausgezeichneten Freunden wider alles Verdienst beschenkt worden; nun wünsche ich mir, vertraulich gesprochen, noch recht bald ein gutes Weib, und dann denke ich meine Lebenswünsche für erfüllt anzusehen. – Alles übrige steht dann bei mir.

Nun habe ich genug von mir gesprochen, verehrteste Freundin, und noch gar nicht verraten, mit welcher herzlichen Teilnahme ich immer an Sie und an Ihr schweres Lebenslos gedacht habe. Ermessen Sie es an dem Tone unbedingten Vertrauens, in dem ich vor Ihnen von mir spreche, wie nahe ich mich Ihnen allezeit gefühlt habe und wie sehr ich wünschte, Sie hier und da ein wenig trösten und unterhalten zu können. Nun leben Sie aber leider so schrecklich entfernt. Vielleicht aber mache ich mich doch einmal um die nächste Osterzeit auf, Sie in Italien zu besuchen, vorausgesetzt, daß ich weiß, wo Sie da zu finden sind. Inzwischen meine innigsten Wünsche für Ihre Gesundheit und die alte Bitte, mir freundlich gewogen bleiben zu wollen.

Treulich Ihr
ergebenster Diener
Friedrich Nietzsche.

Ich bin kürzlich 30 Jahre alt geworden.

Anbei die Photographie meiner Schwester, die nicht mehr bei mir ist.


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