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42. An Erwin Rohde.

Basel, ca. 20. Dezember 1871.

Mein lieber, lieber Freund,
einen herzlichen Weihnachtsgruß zuvor!

Ich hoffte, Dir um diese Zeit bereits meine Schrift »meine Schrift«, die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. zuschicken zu können: es sind aber einige Verzögerungen eingetreten, nicht durch meine Schuld, so daß meine Weihnachtsgabe diesmal etwas zu spät kommen wird. Die Vignette des Titelblattes hat einige Störungen gemacht: die Zeichnung, von Gersdorffs Freunde Rau entworfen, hat unsern höchsten Beifall, aber der »bewährte« Holzschneider, den Fritzsch dafür ausgesucht hatte, hat eine stümperhafte Leistung gemacht, so daß sein Holzstock ganz unbrauchbar und inkorrigibel ist und wir das Werk von neuem einem der besten Holzschneider, dem akademischen Künstler Vogel in Berlin, übertragen mußten. Gersdorff ist mir treu zur Seite und zeichnet sich durch zuverlässigste Hilfsbereitschaft in allen Dingen aus. (Hast Du ihm nicht einmal ein kleines Briefchen geschrieben? Ich glaube, Du würdest ihn sehr erfreuen. Er gehört zum Vorstande des Berliner Wagnervereins: willst Du Dich nicht bei ihm zu einem Lose anmelden? Alexandrinenstraße 121, II Treppen.)

Der Druck ist bedeutend kompresser als in der »Bestimmung der Oper«, daher wird die Schrift wenig umfangreich, etwa 140 Seiten. Acht Bogen sind nach jeder Seite hin fertig, und ich habe nur einen kleinen Rest und die Vorrede zu korrigieren. Der ganze letzte Dir noch unbekannte Teil wird Dich gewiß in Erstaunen setzen, ich habe viel gewagt und darf mir aber in einem ganz enormen Sinne zurufen: animam salvavi: weshalb ich mit großer Befriedigung der Schrift gedenke und mich nicht beunruhige, ob sie gleich so anstößig wie möglich ausgefallen ist und von einigen Seiten geradezu ein »Schrei der Entrüstung«, bei ihrer Publikation, laut werden wird.

Übrigens fühle ich mich in meinen Erkenntnissen der Musik wunderbar befestigt und von deren Richtigkeit überzeugt – durch das, was ich diese Woche in Mannheim, mit Wagner zusammen, erlebte. Ach, mein Freund! Daß Du nicht dabei sein konntest! Was sind alle sonstigen künstlerischen Erinnerungen und Erfahrungen, gemessen an diesen allerletzten! Mir ging es wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt. Denn genau das ist Musik und nichts sonst! Und genau das meine ich mit dem Wort »Musik«, wenn ich das Dionysische schildere, und nichts sonst! Wenn ich mir aber denke, daß nur einige hundert Menschen aus der nächsten Generation das von der Musik haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig neue Kultur!

Alles, was übrigbleibt und sich gar nicht mit Musikrelationen erfassen lassen will, erzeugt bei mir freilich mitunter geradezu Ekel und Abscheu. Und wie ich vom Mannheimer Konzert zurückkam, hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch.

Diese Weihnachten verlebe ich einsam in Basel und habe die Tribschener herzlichen Einladungen ausgeschlagen. Ich brauche Zeit und Einsamkeit, um über meine sechs Vorträge (Zukunft der Bildungsanstalten) einiges nachzudenken und mich zu sammeln. Frau Wagner, deren Geburtstag am 25. Dezember ist (und der ich, an Deiner Stelle, schreiben würde), habe ich meine »Sylvesternacht« gewidmet und bin gespannt, was ich über meine musikalische Arbeit von dort aus zu hören bekomme, da ich noch nie etwas Kompetentes zu hören bekam. Wenn ich dieselbe Dir einmal zum Vortrag bringe, wirst Du, wie ich glaube, mit Rührung den warmen, beschaulichen und glücklichen Ton heraushören, der durch das Ganze hindurchklingt und für mich eine verklärte Erinnerung an das Glücksgefühl meiner Herbstferien zu bedeuten hat.

Mit Jakob Burckhardt habe ich einige schöne Tage erlebt, und unter uns wird viel über das Hellenische konferiert. Ich glaube, man kann jetzt in dieser Hinsicht einiges in Basel lernen. Deinen Pythagorischen Aufsatz »Pythagorischen Aufsatz« ist Rohdes Abhandlung »Die Quellen des Jamblichus in seiner Biographie des Pythagoras«, Rhein. Mus. XXVI S. 554 ff., XXVII S. 23ff. (= Rohde, Kleine Schriften II S. 102 ff.). hat er mit großer Beteiligung gelesen und sich zu seinen Zwecken exzerpiert, und das, was Du über die ganze Entwicklung der Pythagorasvorstellung sagst, ist gewiß das Beste, was über ein so ernstes Kapitel bis jetzt gesagt worden ist. Inzwischen habe ich über Plato eine Anzahl Grundeinsichten gewonnen, und ich meine, wir beide dürften einmal die bisher so schäbige und mumienhafte Geschichte griechischer Philosophen tüchtig und innerlich erwärmen und erleuchten. – Alles, was Du allgemeines zu sagen hast, übergib nur nicht den verfluchten philologischen Zeitschriften: warte nur etwas auf die Bayreuther Blätter! – Über Deine zugesagte Zarnckische Anzeige »Zarnckische Anzeige«, Rohde beabsichtigte, Nietzsches Buch in Zarnckes Literarischem Zentralblatt anzuzeigen. Seine Besprechung wurde aber abgelehnt. bin ich sehr glücklich und von vornherein sehr dankbar. Mein lieber Freund, wir haben noch ein großes Stück Leben miteinander auszumessen: wir wollen treu sein.

F. N.


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