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52. An Freiherrn von Gersdorff.

Basel, 12. Dezember 1872.

Herzlich geliebter Freund,

das ist nun auch vorbei, und das gemischte Gefühl, das jeder Todesfall Der »Todesfall« ist der von Gersdorffs jüngerem Bruder Theodor (vgl. zu S. 103). in uns erzeugen muß, ist hier besonders stark. Er hat es überstanden, dieses Dasein, – wir müssens eben noch überstehen: und zu dem Schwersten, was wir zu überstehen haben, gehört gewiß die sicher eintretende immer größere Vereinsamung, – Geschwister, Eltern, Freunde – alle gehen davon, allmählich wird alles Vergangenheit, und wir uns selbst.

Nun lebst Du Deinen Eltern noch mehr als sonst; und wir alle, Deine Freunde, müssen wünschen und von Herzen dazu tun, daß auf Dir, als auf einem kräftigen guten und schönen Fundamente, die Hoffnung Deines Geschlechtes ruhe. Du siehst gewiß jetzt mutiger in die Zukunft als vor ein paar Jahren und wirst es selbst genug empfinden, welches Heil für den Sterblichen in einem ernsten, bewußten und alle Tiefen unsrer Natur erregenden Streben liegt. Allmählich läuft alles Rechte und Tüchtige, dessen wir fähig sind, auf einer Bahn, nach einem Ziele; wir erstarken in dieser Empfindung und werden von den heftigen Schlägen des Schicksals nicht mehr zertrümmert.

Ich bin glücklich, Dich bald wieder zu sehen und mich Deiner Tapferkeit erfreuen zu können. Es ist ja eine ernste Bildungsreise, die Du unternimmst; und wenn Du, vor ihrem Beginne, noch einmal das schreckliche Bild der Natur, mit Sarg und Begräbnis gesehen hast, so wirst Du Dir immer bewußt bleiben, auf welchen Schrecken auch das schönste Dasein und die befreiendste Kunst ruht, aber ebenso, wie wir das Himmelreich, sei es nun das der Religion oder der Kunst oder des reinen Erkennens, immer brauchen, um das Erdenreich oder die Erdenluft ertragen zu können. –

Für mehrere Briefe habe ich Dir zu danken, lieber Freund, und wenn ich so schwer zum Antworten kam, so hing es diesmal an einer kleinen Erwartung: ich wollte Dir gerne meine Photographie mitschicken, und es dauerte längere Zeit, ehe ich mich zum Photographiertwerden entschließen konnte und ehe der Photograph fertig wurde. Hier bekommst Du das erste Bild, das er mir sendet. Die Nacht, bevor es aufgenommen wurde, wurde ich durch ein großes Feuer erschreckt, auch habe ich ein paar Stunden durch Wassertragen usw. mit geholfen, kurz, es wird wohl an der Photographie etwas zu merken sein, daß ich die Nacht vorher nicht geschlafen hatte. Sie hat etwas Wildes und Bojarenhaftes.

Fräulein von Meysenbug (Florenz via Alfieri 16) schreibt mir, daß es ihr eine sehr große Freude sein würde. Dich wiederzusehen. Sie hat mir ihr Bild geschickt und erzählt von dem Eindrucke, den meine Vorträge über Bildungsanstalten auf sie und die anderen Zuhörer machen. Es ist jetzt gerade ein sehr günstiger Augenblick, daß diese nach Florenz gelangt sind, da man dort mit der Reform des Erziehungswesens und der Lehranstalten fast ausschließlich beschäftigt ist.

Was macht denn der arme Wilamowitz? Ich weiß nicht, woher ich hörte, daß er auch nach Italien reise; wobei nur zu wünschen wäre, daß Ihr nicht zusammentrefft.

Ein paar beglückte reine Tage habe ich mit Wagners in Straßburg zusammen verlebt und mich der unbedingten Zugehörigkeit zu diesen beiden auf das Schönste versichert. Sie freuten sich recht über meine Gesundheit und über mein »Resolut«-sein, »Resolutsein im Goethe-Mazzinischen Sinne« und »jenen Spruch« vgl. zu S. 126. im Goethe-Mazzinischen Sinne. Dessen bedarf es aber auch, denn ich erlebe mancherlei, was man nur sehr gepanzert erträgt.

Ich habe jenen Spruch auf das Bild geschrieben und meine, es sollte auch für Deine Italienreise ein schönes Motto abgeben.

Weihnachten werde ich mit den Meinigen in Naumburg zusammen sein, aber mit den ersten Tagen des Januar bin ich wieder in Basel und erwarte Dich.

Ich drücke Dir, Du lieber Freund, die Hand und wünsche Dir stillen und ertragenden Mut in so schweren Zeiten.

Von Herzen der Deinige
Friedrich Nietzsche.

Basel, Donnerstag, 12. Dez. 1872.


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