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50. An Malwida von Meysenbug.

Basel, 7. November 1872.

Verehrtestes Fräulein,

endlich ist mein Bündelchen für Sie bereit und endlich hören Sie wieder etwas von mir, nachdem ich in ein wahres Grabesschweigen versunken scheinen mußte. Denken Sie, daß ich inzwischen bereits einmal ziemlich in Ihrer Nähe war – nämlich in Bergamo – und daß nur ein vollendeter, plötzlich ausbrechender Widerwille gegen Italien (namentlich Gemälde!) mich schnell wieder zurücktrieb. – Sonst hätten wir uns in diesem Jahre zum vierten Male gesehen und wieder ein solches Wiedersehn feiern können wie das Basler Konzil, das ich in herzlichem Angedenken und mit stetem Dank gegen Sie und das liebenswerte Brautpaar in Erinnerung trage. Zum vierten Male! Vielleicht einmal mehr als gut ist, nach dem Sprichwort, daß aller guten Dinge drei sind – kurz, der Dämon trieb mich wieder zurück und setzte mich auf den Splügen, wo ich in der größten Abgeschiedenheit von Menschen und Gesellschaft ein beruhigtes und nachdenkliches Leben führte, in kräftiger, ja schneidender Luft (während die italienische Atmosphäre auf mich einwirkte wie der Dunst einer Badestube – abscheulich und weichlich!)

Übrigens wird Freund Gersdorff im nächsten Januar über die Alpen steigen: er hat bereits bei mir angefragt, ob er Sie noch in Florenz anzutreffen die Hoffnung hegen könne. Er ist sehr glücklich, da sein Lebenslos jetzt einmal tüchtig umgeschüttelt wird – dadurch daß er die juristische Laufbahn im Dezember aufgeben darf. Er wird nun etwas reisen und dann Landwirtschaft, mit den dazu nötigen wissenschaftlichen Vorbedingungen, studieren. Den nächsten Sommer denkt er vielleicht in Basel mit Chemie und »Kultur«, wie er schreibt, zu verbringen, – was jedenfalls nicht Agrikultur, sondern wirkliche Menschheitskultur zu bedeuten hat.

Für die dritte Woche des November, und zwar für 8 Tage, ist mir ein herrlicher Besuch angekündigt – hier in Basel! Der »Besuch an sich«, Wagner mit Frau. Sie sind auf der großen Rundreise, auf der sie alle wesentlichen Theater Deutschlands berühren wollen, bei Gelegenheit aber auch den berühmten Basler Zahnarzt, dem ich also sehr viel Dank schulde!

Die neueste Schrift Wagners »Über Schauspieler und Sänger« kennen Sie schon? Dagegen gewiß noch nicht die Apologie von Prof. Rohde in Kiel, die er ebenso mit dem Schwert als der Feder und mit großer Überlegenheit über seinen Gegner geschrieben hat. Ich habe es nämlich durch meine »Geburt der Tragödie« dazu gebracht, der anstößigste Philologe des Tages zu sein, für den einzutreten ein wahres Wunderwerk der Kühnheit sein mag, da alles einmütig ist, über mich den Stab zu brechen. Abgesehn von der Polemik, mit der ich Sie nicht belästigen würde, enthält aber die Rohdesche Schrift vielerlei Gutes über die philologischen Fundamente meines Buches und wird dadurch bei Ihnen einige Teilnahme finden können. Wenn ich nur nicht fürchten müßte, daß der großmütige Schritt Rohdes ihn in ein wahres Nest von Mißgunst und Bosheit hineinführen wird! Jetzt sind wir beide zusammen auf dem Index! Im Grunde ist es ja eine Verwechslung; ich habe nicht für Philologen geschrieben, obwohl diese – wenn sie nur könnten – mancherlei selbst Rein-Philologisches aus meiner Schrift zu lernen vermöchten. Nun wenden sie sich erbittert an mich, und es scheint, sie meinen, ich habe ein Verbrechen begangen, weil ich nicht zuerst an sie und ihr Verständnis gedacht habe. Auch Rohdes Tat wird erfolglos bleiben, denn nichts vermag die ungeheure Kluft zu überbrücken. Nun ziehe ich ruhig weiter auf meiner Bahn und hüte mich, den Ekel zu empfinden, zu dem man sonst auf Schritt und Tritt Veranlassung fände.

Verehrtestes Fräulein, Sie haben ja Schwereres, doch Analoges erlebt, und wer weiß, wie weit mein Leben noch dem Ihrigen ähnlich zu werden vermag. Denn bis jetzt habe ich eben nur gerade angefangen mich etwas auszusprechen; ich brauche noch viel guten Mut und kräftige Freundesliebe, vor allem gute und edle Beispiele, um nicht mitten im Sprechen den Atem zu verlieren. Ja, gute Beispiele! Und da denke ich an Sie und freue mich recht von Herzen, mit Ihnen, verehrtestes Fräulein, als mit einer einsamen Kämpferin für das Rechte, zusammengetroffen zu sein. Glauben Sie ein für allemal, daß ich Ihnen das unbedingte Vertrauen geschenkt habe, das ich, in dieser Welt des Mißtrauens, nur unter meinen nächsten Freunden empfinden darf, und daß ich so gegen Sie vom ersten Augenblicke unseres Bekanntwerdens gesinnt gewesen bin. Ebenfalls möge Fräulein Olga überzeugt sein, daß sie auf mich, in jeder Lage des Lebens, rechnen darf. Ich bin Ihnen beiden von Herzen gut und erhoffe Gelegenheiten, es zeigen zu können. –

Da kommt Ihr freundlicher Brief aus Florenz und erinnert mich zunächst daran, daß es, bei meinem abscheulichen Stillschweigen, eigentlich ganz anders erscheinen mußte als ich vorhin, im liegengebliebenen und unvollendeten Brief, versichern konnte: warum schrieb ich nur nicht in so langer Zeit! So frage ich mich selbst ganz erstaunt, ohne rechte Gründe oder gar Entschuldigungen zu finden. Aber ich habe es schon erlebt, daß ich mich oft am schwersten entschließe, denen zu schreiben, an die ich am meisten denke. Aber ich verstehe es nicht. Deuten Sie es nur so gütig wie möglich und lassen Sie es dann vergessen sein. Es gibt so viel Irrationelles, gegen das man sich nur durch Vergessen hilft.

Mit diesem dunkeln Spruche will ich heute schließen. Sie empfangen mit diesem Briefe das Bild, »das Bild«, eine von Frl. von Meysenbug gewünschte Photographie Basels mit dem Blick auf das Münster und die Rheinbrücke. die Rohdesche Schrift und meine fünf Vorträge über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Diese lesen Sie ja mit Vergegenwärtigung eines ganz bestimmten, und zwar Baslerischen Publikums; es würde mir jetzt unmöglich erscheinen, so etwas drucken zu lassen, denn es geht nicht genug in die Tiefe und ist in eine farce eingekleidet, deren Erfindung recht gering ist.

Von Herzen Ihr getreuer
Friedrich Nietzsche.

Ich richte noch die herzlichen Empfehlungen meiner Schwester aus; sie ist nicht mehr hier, will mich aber im Sommer wieder besuchen.


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