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89. An Peter Gast.

Marienbad, 20. August 1880.

Freund Gast, in meine Ernte-, ja Erntefeststimmung klingt Ihr Brief hinein, zwar etwas düster, aber so gut und kräftig, daß ich auch heute wieder wie jedesmal mein Nachdenken über Sie mit dem Chorale zu Ende und zur Ruhe bringe

»Was Gast tut, das ist wohlgetan,
Es bleibt gerecht sein Wille!« Amen.

Sie sind aus stärkerem Stoffe als ich und dürfen sich schon höhere Ideale bilden. Ich für mein Teil leide abscheulich, wenn ich der Sympathie entbehre; und durch nichts kann es mir z. B. ausgeglichen werden, daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig gegangen bin. Wie oft träume ich von ihm, und immer im Stile unsers damaligen vertraulichen Zusammenseins! Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viele ermutigende und heitere, und mit niemandem habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbei – und was nützt es, in manchen Stücken gegenihn recht zu haben! Als ob damit diese verlorne Sympathie aus dem Gedächtnis gewischt werden könnte! – Und Ähnliches habe ich schon vorher erlebt, und werde es vermutlich wieder erleben. Es sind die härtesten Opfer, die mein Gang im Leben und Denken von mir verlangt hat, – noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie: es scheint mir so töricht, recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Wertvollstes nicht mitteilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. Hinc meae lacrimae. –

Ich bin noch in Marienbad: das »österreichische Wetter« hielt mich fest!! Denken Sie, daß es seit dem 24. Juli jeden Tag geregnet hat, und oft tagelang. Regenhimmel, Regenluft, aber gute Wege im Walde. Meine Gesundheit ging dabei wieder rückwärts; in summa bin ich aber mit Venedig und Marienbad zufrieden. Es ist gewiß hier seit Goethe noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht so prinzipielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen, – ich war über mich selber weit hinaus. Einmal, im Walde, fixierte mich ein Herr, der an mir vorüberging, sehr scharf: ich empfand in diesem Augenblicke, daß ich den Ausdruck strahlenden Glücks im Gesichte haben müsse und daß ich schon zwei Stunden mit ihm herumlaufe. Ich lebe incognito, wie der bescheidenste aller Kurgäste; in der Fremdenliste stehe ich als »Herr Lehrer Nietzsche«. Es gibt viel Polen hier, und diese – es ist wunderlich – halten mich durchaus für einen Polen, »halten mich durchaus für einen Polen«, wegen seines Äußeren. Vgl. Biogr. I S. 10 ff.kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu und – glaubens mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe. »Es ist die polnische Rasse, aber das Herz ist Gott weiß wohin gewendet« – damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt.

Anfang September bin ich in Naumburg. Dorthin kommen auch Overbecks. Auch Frau von Wöhrmann (sie löst ihren Haushalt in Naumburg auf und geht nach Venedig zurück). Der Sohn von Frau von Wöhrmann und ebenso sein Freund O. von Werthern, die das Naumburger Gymnasium besuchen, kommen zu uns ins Haus.

Haben Sie die »Menschen des 18. Jahrhunderts« »Menschen des 18. Jahrhunderts«, ein Auszug aus den Causeries du Lundi von Sainte-Beuve, der von Frau Overbeck übersetzt und 1880 bei Schmeitzner in Chemnitz erschienen war. von Sainte-Beuve? Es sind herrliche Gemälde von Menschen, und Ste.-Beuve ist ein großer Maler. Aber ich sehe über jeder Gestalt noch eine Bogenlinie, die er nicht sieht, und diesen Vorsprung gibt mir meine Philosophie. Meine Philosophie? Hole mich der Teufel! Und Sie möge der liebe Gott holen, – er hat Freude an allen Gasten.

Treulich der Ihre
F. N.


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