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121. An die Schwester.

Venedig, Mitte Juni 1884.

Liebe Schwester.

Unsre Mutter schreibt mir, daß Du von dem III. Teil des »Zarathustra« so erfüllt wärest und keine Worte fändest, den Dank für das Geschenk auszudrücken. Es sollte schon längst in Deinen Händen sein, wenigstens habe ich dem Verleger schon lange den Auftrag dazu gegeben. Das ist aber auch kein Geschenk, für das man so ohne weiteres zu danken hätte – ich verlange ein Umlernen in betreff der liebsten und verehrtesten Empfindungen, und viel mehr als ein Umlernen! Wer weiß wie viele Generationen erst vorübergehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner ganzen Tiefe nachfühlen, was ich getan habe! Und selbst dann macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden. Aber das ist die Qual jedes großen Lehrers der Menschheit: er weiß, daß er, unter Umständen und Unfällen, der Menschheit zum Verhängnis werden kann, so gut als zum Segen.

Nun, ich selber will alles tun, um zum mindesten keinem allzu groben Mißverständnis Vorschub zu leisten, und jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe, muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Hauptbau fertig vor mir steht. Menschen, die nur die Sprache der Ambition verstehen, mögen mir nachsagen, daß ich nach der höchsten Krone griffe, welche die Menschheit zu vergeben hat. Wohlan!

Also das Gerüste zu meinem Hauptbau soll in diesem Sommer aufgerichtet werden; oder anders ausgedrückt: ich will das Schema zu meiner Philosophie und den Plan für die nächsten sechs Jahre in diesen nächsten Monaten aufzeichnen. Möchte meine Gesundheit dazu ausreichen!

Dein Bruder.


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