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55. An Malwida von Meysenbug.

Basel, 6. April 1873.

Verehrtestes Fräulein, wie gern möchte ich diese Ostern bei Ihnen verbringen und wie dankbar habe ich Ihre Einladung empfangen. Wenn ich auch nicht helfen könnte Sie zu trösten, so wäre es mir doch hier und da gelungen, Sie zu zerstreuen und Ihr Nachdenken irgendwohin abzulenken. »Sie zu zerstreuen und ... abzulenken«, Frl. von Meysenbug fühlte sich nach der Verheiratung ihrer Pflegetochter Olga sehr vereinsamt. Nun muß ich leider so festgebunden sein, daß ich nur für die allerkürzesten Termine (von 8-12 Tagen) um Ostern herum etwas Freiheit habe: das hängt davon ab, daß ich außer meiner Universitätsstellung noch das Amt eines griechischen Lehrers in der obersten Klasse des Pädagogiums innehabe und somit den langweiligen Quälereien schriftlicher und mündlicher Schulexamina usw. ausgesetzt bin. Die freie Zeit ist also zu kurz, um nach Florenz reisen zu können: wie oft habe ich das beseufzt! Denn ich habe wirklich das herzlichste Bedürfnis, Sie jetzt zu sehen und zu sprechen, und würde jedenfalls nur Ihretwegen (und nicht irgendwelcher Malereien halber) nach Florenz gekommen sein. Wenn ich mir besonders noch denke, daß Ihre Gesundheit noch nicht wiederhergestellt ist und daß Sie zu der Fülle von Seelenschmerzen und Beunruhigungen höchst überflüssigerweise auch noch leiblich gequält werden, so fühle ich in mir so recht die Ohnmacht des Helfenwollens und Nichtkönnens! Hoffentlich schreibt Ihnen Frau Olga Monod das Beste und Beruhigendste, vor allem recht oft und ausführlich.

Heute abend reise ich ab, raten Sie wohin? – Sie haben es erraten. Und zwar treffe ich dort, um das Glücksmaß vollzumachen, mit dem besten der Freunde, mit Rohde zusammen; morgen nachmittag halb vier sitze ich im Hause an der Dammallee »Haus an der Dammallee«, war Wagners Wohnung in Bayreuth bis zur Vollendung von »Wahnfried«. und bin ganz glücklich. Wir werden viel von Ihnen sprechen. Dann von Gersdorff, dem »taumelnden Kavalier«, »taumelnde Kavalier«, wörtlich hatte Wagner Gersdorff den »im Irrgarten der Liebe taumelnden Kavalier« genannt. wie ihn Wagner nennt. Was Sie mir erzählen von einer Abschrift, die sich Gersdorff von meinen Vorträgen gemacht hat, ist geradezu rührend und gar nicht zu vergessen. Was ich für gute Freunde habe! Es ist ordentlich beschämend.

In Bayreuth hoffe ich wieder Mut und Heiterkeit mir zu holen und mich wieder in allem Rechten zu befestigen. Mir träumte diese Nacht, ich ließe mir den Gradus ad Parnassum neu und schön einbinden; diese buchbinderische Symbolik ist doch verständlich, wenn auch recht abgeschmackt. Aber es ist eine Wahrheit! Von Zeit zu Zeit muß man sich, durch den Umgang mit guten und kräftigeren Menschen gewissermaßen neu einbinden lassen, sonst verliert man einzelne Blätter und fällt mutlos immer mehr auseinander. Und daß unser Leben ein gradus ad Parnassum sein soll, ist auch eine Wahrheit, die man sich öfters einmal sagen muß. Mein Parnassus der Zukunft ist, wenn ich mich sehr anstrenge und einiges Glück sowie viel Zeit habe – vielleicht ein müßiger Schriftsteller zu werden, vor allem aber immer mehr »mäßig im Schriftstellern«. Ich habe von Zeit zu Zeit eine kindliche Abneigung gegen bedrucktes Papier, das mir dann nur wie beschmutztes Papier gilt. Und ich kann mir wohl eine Zeit denken, in der man es vorzieht, wenig zu lesen, noch weniger zu schreiben, aber viel zu denken und noch viel mehr zu tun. Denn alles wartet jetzt auf den handelnden Menschen, der jahrtausendalte Gewohnheiten von sich und andern abstreift und es besser vormacht, zum Nachmachen. In meinem Hause entsteht eben etwas voraussichtlich sehr Rühmliches, eine Charakteristik unsrer heutigen Theologie, hinsichtlich ihrer » Christlichkeit«: mein Freund und Gesinnungsbruder Prof. Overbeck, der freieste Theolog, der jetzt nach meinem Wissen lebt und jedenfalls einer der größten Kenner der Kirchengeschichte, arbeitet an dieser Charakteristik und wird, nach allem, was ich weiß und worin wir einmütig sind, einige erschreckende Wahrheiten bekannt machen. Allmählich dürfte Basel ein Bedenken erregender Ort werden. –

Nun wird es dunkel, ich muß an die Abreise und das Einpacken denken und Sie verlassen, verehrteste und innig bedauerte Freundin. Wäre es doch wenigstens zur Abreise nach Florenz!

In Treue
der Ihrige
Friedrich Nietzsche.


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