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30. An Erwin Rohde.

Basel, Ende Januar bis 15. Februar 1870.

Mein lieber Freund, neulich überkam mich die Sorge, wie es Dir wohl in Rom ergehen möge und wie abseits von der Welt und wie verlassen Du vielleicht dort lebst. Es wäre ja selbst möglich, daß Du krank wärest, ohne rechte Pflege und ohne freundschaftliche Unterstützung. Beruhige mich und nimm mir meine pessimistischen Grillen. Mir kommt das Rom des Konzils so unheimlich giftig vor – nein, ich will nicht mehr schreiben, denn das Briefgeheimnis ist für alle kirchlich-jesuitischen Dinge mir nicht sicher genug: man möchte wittern, was im Briefe stünde, und Dirs entgelten lassen. – Du studierst das Altertum und lebst das Mittelalter. –

Nun will ich eins Dir recht eindringlich sagen. Denke daran, auf Deiner Rückreise einige Zeit bei mir zu wohnen: weißt Du, es möchte vielleicht für lange Zeit das letztemal sein. Ich vermisse Dich ganz unglaublich: mache mir also das Labsal Deiner Gegenwart und sorge dafür, daß sie nicht so kurz ist. Das ist mir nämlich doch eine neue Empfindung, auch so gar niemanden an Ort und Stelle zu haben, dem man das Beste und Schwerste des Lebens sagen könnte. Dazu nicht einmal einen wirklich sympathischen Berufsgenossen. Meine Freundschaft bekommt unter so einsiedlerischen Umständen, so jungen und schweren Jahren wirklich etwas Pathologisches: ich bitte Dich, wie ein Kranker bittet: »komm nach Basel!«

Mein wahres und nicht genug zu preisendes Refugium bleibt hier für mich Tribschen bei Luzern: nur daß es doch nur selten aufzusuchen ist. Die Weihnachtsferien habe ich dort verlebt: schönste und erhebendste Erinnerung! Es ist durchaus nötig, daß Du auch in diese Magie eingeweiht wirst. Bist Du erst mein Gast, so reisen wir auch zusammen zu Freund Wagner. Kannst Du mir nichts über Franz Liszt schreiben? Wenn Du vielleicht Deine Rückreise über den Lago di Como machen könntest, so wäre eine schöne Gelegenheit, uns allen eine Freude zu machen. Wir, d. h. wir Tribschener, haben ein Auge auf eine Villa am See, bei Fiume Latte, namens »Villa Capuana«, zwei Häuser. Kannst Du diese Villa nicht einer Musterung und Kritik unterwerfen?

Von Wackernagels Tod hast Du wohl gelesen? Es ist im Plane, daß Scherer in Wien ihn ersetzen soll. Auch ein neuer Theologe ist im Anzuge, Overbeck aus Jena. Romundt ist Erzieher bei Professor Czermak und wohl situiert, dank Ritschl. Roscher, der mir über seine wärmste Verehrung für dich geschrieben hat, ist als »bedeutender« Pädagog in Bautzen. Bücheler soll nach Bonn gerufen sein. Das »Rheinische Museum« hat jetzt lateinische Lettern. Ich habe einen Vortrag vor gemischtem Publikum gehalten über »das antike Musikdrama« und halte am 1. Februar einen zweiten über »Sokrates und die Tragödie«. Ich gewinne immer mehr Liebe für das Hellenentum: man hat kein besseres Mittel, sich ihm zu nähern, als durch unermüdliche Fortbildung seines eignen Persönchens. Der Grad, den ich jetzt erreicht habe, ist das allerbeschämendste Eingeständnis meiner Unwissenheit. Die Philologenexistenz in irgendeiner kritischen Bestrebung, aber tausend Meilen abseits vom Griechentum, wird mir immer unmöglicher. Auch zweifle ich, ob ich noch je ein rechter Philologe werden könne: wenn ich es nicht nebenbei, so zufällig erreiche, dann geht es nicht. Das Malheur nämlich ist: ich habe kein Muster und bin in der Gefahr des Narren auf eigne Hand. Mein nächster Plan ist, vier Jahre Kulturarbeit an mir, dann eine jahrelange Reise – mit Dir vielleicht. Wir haben wirklich ein recht schweres Leben, die holde Unwissenheit an der Hand von Lehrern und Traditionen war so glücklichsicher.

Übrigens bist Du klug, wenn Du nicht so eine kleine Universität als Wohnsitz wählst. Man vereinsamt selbst in seiner Wissenschaft. Was gäbe ich darum, wenn wir zusammenleben könnten! Ich verlerne ganz zu sprechen. Das lästigste aber ist mir, daß ich immer repräsentieren muß, den Lehrer, den Philologen, den Menschen, und daß ich mich allen, mit denen ich umgehe, erst beweisen muß. Das aber kann ich so sehr schlecht und verlerne es immer mehr. Ich verstumme oder sage bereits absichtlich nur so viel, wieviel man als höflicher Weltmensch zu sagen pflegt. Kurz, ich bin mit mir mehr unzufrieden als mit der Welt und deshalb um so zugetaner dem Teuersten.

Mitte Februar. – Ich habe jetzt die stärkste Besorgnis, daß mich Deine Briefe und Dich die meinigen nicht erreichen: seit November habe ich nichts gehört. Meine verehrte Freundin Cosima riet mir, durch ihren Vater (Franz Liszt) mir Auskunft über Dich zu verschaffen. Dies werde ich auch nächstens tun; heute probiere ich es nochmals mit einem Brief. – Über das Konzil sind wir gut durch die »römischen« Briefe »die römischen Briefe«, der Verfasser war wahrscheinlich Lord Acton, ein Freund und Schüler Döllingers. in der ›Augsburger‹ unterrichtet; kennst Du den Verfasser? Laß es Dir dann ja nicht merken: es wird schrecklich auf ihn gefahndet. – Ich habe hier einen Vortrag über »Sokrates und die Tragödie« gehalten, der Schrecken und Mißverständnisse erregt hat. Dagegen hat sich durch ihn das Band mit meinen Tribschener Freunden noch enger geknüpft. Ich werde noch zur wandelnden Hoffnung: auch Richard Wagner hat mir in der rührendsten Weise zu erkennen gegeben, welche Bestimmung er mir vorgezeichnet sieht. Dies ist alles sehr beängstigend. Du weißt wohl, wie sich Ritschl über mich geäußert hat. Doch will ich mich nicht anfechten lassen: literarischen Ehrgeiz habe ich eigentlich gar nicht, an eine herrschende Schablone mich anzuschließen brauche ich nicht, weil ich keine glänzenden und berühmten Stellungen erstrebe. Dagegen will ich mich, wenn es Zeit ist, so ernst und freimütig äußern wie nur möglich. Wissenschaft, Kunst und Philosophie wachsen jetzt so sehr in mir zusammen, daß ich jedenfalls einmal Zentauren gebären werde.

Mein alter Kamerad Deussen ist mit Leib und Seele zu Schopenhauer übergegangen, als der letzte und älteste meiner Freunde. Windisch ist auf ein Jahr nach England, im Dienste der East Indian Office, um Sanskrithandschriften zu vergleichen. Romundt hat einen Schopenhauer-Verein ins Leben gerufen. Soeben ist eine skandalöse Schrift »skandalöse Schrift«, Theodor Bergk: Beiträge zur lateinischen Grammatik. Erstes Heft. Halle 1870. gegen Ritschl erschienen (gegen seine Plautuskritik und das auslautende d): von Bergk, zur Schmach des deutschen Gelehrtentums.

Nochmals schönsten und herzlichsten Gruß. Ich freue mich auf das Frühjahr, weil es Dich durch Basel führt: nur teile mir mit, wann das geschieht: in den Osterferien bin ich mit den Meinigen am Genfersee.

Lebwohl! Lebwohl!


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