Emanuel Geibel
Gedichte
Emanuel Geibel

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Waldmärchen.

        In einer Waldschlucht finster,
Wo heimlich baut der Fuchs,
Wo Farrenkraut und Ginster
Sich rankt in üpp'gem Wuchs,
Lag ich, vom Grün umwoben,
An einem dunklen Bach;
Es lugte kaum von oben
Die Sonn' ins Laubgemach.

Ich hatte Moos zum Pfühle,
Gestrüpp zur Lagerstatt,
Vom Fels kam eine Kühle
Und ging durch Busch und Blatt;
Und kühle quoll der Sprudel
Und murrt' am schroffen Hang,
Den oft bei Nacht im Rudel
Die Hindin übersprang.

Mit rotem Auge schaute
Vom Baum der Auerhahn,
Es zog mit heisrem Laute
Der Häher seine Bahn;
Dann hämmert' abgebrochen
Der Specht von Zeit zu Zeit –
Mir war's, als hört' ich pochen
Das Herz der Einsamkeit.

Da plötzlich sah ich lehnen
Am Stamm ein hohes Weib,
Umwallt von lockigen Strähnen
Den wunderschönen Leib;
Wem ward zum Eigentume
Je solch ein Goldgewand!
Sie trug eine blaue Blume
In ihrer weißen Hand.

Sie sprach: »Sei mir willkommen!
Du bist ein seltner Gast,
Doch hast du dir zum Frommen
Erkoren hier die Rast;
Von allen Königinnen
Die reichste bin ich bald;
Mein Schloß mit grünen Zinnen
Das ist der lust'ge Wald.

Sonst macht' ich wohl hinunter
Ins offne Land den Ritt,
Und Blumen sproßten munter,
Wohin mein Zelter schritt;
Zu bringen Lust und Minne,
Das war mein fröhlich Recht;
Doch ist von anderm Sinne
Das heurige Geschlecht.

Das träumt von Klingenhieben,
Von Schlacht nur und Geschoß;
Da bin ich heimgeblieben
In meinem Zauberschloß.
Nun lehr' ich singend wallen
Den Bach durch Fels und Ried,
Nun lehr' ich die Nachtigallen
Im Lenz ihr süßestes Lied.

Ich weiß, auch du mußt fechten,
Auch du gehörst der Zeit;
So steh zu deinen Rechten
Und führe wackern Streit!
Doch will dein Arm ermüden,
Bei mir dann kehre ein,
Im säuselnden Waldfrieden
Sollst du gekräftigt sein.

Da sollst du Frische saugen
Im harz'gen Duft vom Tann,
Da schaut aus Blumenaugen
Das Märchen fromm dich an;
Und macht der Forst dich singen:
Es wird in der Zeiten Gang
Auch solche Weise dringen
Wie grüner Waldhornklang.«

Sie sprach's; ich stand erschrocken
Und wußte nicht ein Wort,
Da schüttelte sie die Locken
Und schwand ins Dickicht fort.
Noch glaubt' ich fern das Wallen
Zu sehn des goldnen Haars,
Doch in den Buchenhallen
Ein Strahl der Sonne war's.

Und wieder schrie der Häher,
Und wieder quoll die Flut;
Doch mir entzücktem Seher
War groß und still zumut.
Und zeihn sie mir's als Sünde:
Ich lasse dich dennoch nie,
O Fei der Waldesgründe,
O Sagenpoesie!

 


 


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