Emanuel Geibel
Gedichte
Emanuel Geibel

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Platens Vermächtnis.

        Noch schweift der kräft'ge Geist auf fernen Bahnen
Und rasch durch diese Adern pocht das Leben;
Doch Stimmen gibt's, geheime, deren Mahnen
Das Herz umsonst sich müht zu widerstreben,
Und mir verkündet solch ein dunkles Ahnen:
Bald muß ich diesen Staub dem Staube geben,
Und den sie mir im Leben nicht gestatten,
Der Lorbeer wird auf meinem Grabe schatten.

Sei's immer. Ich erfüllte meine Sendung,
Ein rastlos treuer Priester der Kamönen;
Ich deutete mit jeder leisen Wendung
Ein Fackelträger nach dem Reich des Schönen.
Umwallt vom Königsmantel der Vollendung
Schritt mein Gesang dahin in Feiertönen,
Und was vordem den Griechen nur gelungen,
In deutscher Rede hab' ich's nachgesungen.

Zwar habt ihr selten meinen Ernst begriffen
Und nie das Ziel bedacht, das ich erkoren;
Zu meinem Spotte habt ihr grell gepfiffen,
Denn seine Wahrheit kitzelt nicht die Ohren,
Und wie der Wogenschlag an Felsenriffen
Ging selbst des Liedes Maß an euch verloren;
Doch wie ihr mich verleugnet und mein Dichten,
Ich bin getrost, die Nachwelt wird mich richten.

Ist auch das Saatkorn noch nicht aufgegangen,
Das ich gestreut in unsrer Heimat Boden,
Verzagt ihr auch, von Kleinmut noch befangen,
Des Unkrauts träge Wildnis auszuroden:
Erscheinen wird der Tag, wo mit Verlangen
Den Aschenkrug ihr suchet des Rhapsoden,
Der, ringend nach der Schönheit goldnen Früchten,
Vor eurem Groll zum Süden mußte flüchten.

Dann wird der deutsche Wald von Liedern schallen,
Die prächtig wie auf Adlersflügeln rauschen,
Der heitre Süden wird zum Norden wallen,
Um seines Ernstes Schätze einzutauschen.
Und heilig wird der Sänger sein vor allen,
Und fromme Hörer werden rings ihm lauschen.
Was soll ich drum den frühen Tod beweinen? –
Der Dichter lebt, solang' die Sterne scheinen.

 


 


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