Emanuel Geibel
Gedichte
Emanuel Geibel

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Der letzte Skalde.

            Im Föhrenwalde ging der Sturm,
Mitternacht war die Stunde,
Da trat in des alten Sängers Turm
Der Knab' mit trüber Kunde:

»Hört auf mit dem Lesen nun, Herr Skiold,
Schaut auf von eurem Buche;
Der alte Swerker lieb und hold,
Der liegt im Leichentuche.«

Da seufzte der Sänger tief empor:
»Sei Friede mit dem Biedern!
Doch weh! Mir starb das letzte Ohr,
Das horchte meinen Liedern.

Wohl fechten die andern tagaus, tagein,
Doch sind sie des Skalden vergessen,
Und werden einst selber vergessen sein,
So kühn sie des Ruhms sich vermessen.

Ich aber habe zur Neige nun
Des Lebens Kelch geleeret;
Wohl mag der Sänger gehn und ruhn,
Wo niemand sein begehret.

Auf, Knabe, schwinge die Fackel stolz
Empor zur Balkendecke,
Daß prasselnd von dem dürren Holz
Die volle Flamme lecke!

Dann eil' hinaus zum Walde frei,
Nimm mit, was du erworben,
Und sage den Leuten rings, es sei
Der letzte Skalde gestorben.« –

Und als der Knabe floh, da stand
Schon auf den Zinnen der Hohe,
Und wie ein königlich Gewand
Schlug um ihn her die Lohe.

Die Harfe hielt er goldesschwer
Und sang vom Turmesgipfel,
Da neigten die Föhren ringsumher
Ihre geröteten Wipfel.

Doch als gemach das Lied verscholl,
Verloschen auch die Flammen;
Es stürzte dampfend mit Geroll
Der alte Turm zusammen.

Da lag nun unter Schutt und Brand
Begraben der letzte Skalde,
Und niemand sang im ganzen Land,
Als nur die Vögel im Walde.

 


 


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