Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Fünftes Kapitel.

Der dreizehnte Januar

Rudolf an Clemence.

Der dreizehnte Januar! Doppelt unglücklicher Jahrestag!

Meine Teuerste, wir haben sie auf immer verloren. Es ist alles aus. Laß Dir erzählen!

Gestern klagte ich den Zufall an, der Dich von mir fern hält; heute bin ich froh, daß Du nicht hier bist. Dein Schmerz würde zu groß sein.

Ich war an diesem Morgen kaum ein Stündchen eingeschlummert, als mich Glockengeläut weckte. Ich erschrak, denn es klang schauerlich – wie Totengeläut. – Meine Tochter ist tot für uns – tot, hörst Du? von heute an, Clemence, mußt Du um sie trauern. Ob unser Kind unter dem Marmor eines Grabsteins ruht oder hinter dem Gemäuer eines Klosters begraben ist – was macht das aus? Von heute an, hörst Du, muß sie für tot gelten. Uebrigens ist sie sehr schwach und kränklich. Der viele Kummer hat sie sehr angegriffen.

Nach meinem gestrigen Brief wirst Du begreifen, daß es vielleicht besser für sie wäre, sie wäre wirklich tot. Tot! diese drei Buchstaben sehen schauerlich aus, findest Du das nicht auch, wenn man sie auf eine schöne, hoffnungsvolle, angebetete Tochter anwendet – ein engelgleiches Kind, das kaum achtzehn Jahre alt ist! Was fruchtet es ihr, was uns, daß sie in der öden Einsamkeit eines Klosters langsam hinsiecht? Was hilft es, daß sie noch am Leben ist, wenn sie doch für uns verloren bleibt? – Was ich da sage, ist entsetzlich. So egoistisch ist die Liebe eines Vaters.

Um die Mittagsstunde ist ihre feierliche Einkleidung vollzogen worden. Hinter den Vorhängen unsers Kirchensitzes habe ich die Zeremonie mitangesehen. Sonderbar, alle verehren sie und glauben, sie würde durch innere Eignung zu dem geistlichen Stande hingezogen und man müßte in der Vollziehung ein glückliches Ereignis erblicken. Nach abgelegtem Gelübde wurde unser Kind in den Kapitelsaal zurückgeführt, wo nun die Wahl der neuen Aebtissin erfolgen sollte. Dank meinem fürstlichen Vorrecht hatte auch ich Zutritt und erwartete nun Marienblumens Rückkehr aus der Kirche. Sie kam bald. Sie war so aufgeregt und erschöpft, daß zwei Schwestern sie stützen mußten. Ich erschrak – weniger über ihre Blässe und ihr entstelltes Gesicht – als über ihr seltsames Lächeln. Clemence, ich sage Dir, unser Kind ist zu Tode getroffen. Ich hoffe nicht mehr für ihr Leben, seit ich sie gesehen. Es ist besser, wir bereiten uns auf ihren Tod vor – wäre doch auch ihr Leben nur eine Kette von Unglück!

Amalie trat in den großen Saal, und alle Stühle wurden besetzt. Sie nahm bescheiden auf dem letzten linker Hand Platz. Am obersten Ende saß Prinzessin Juliane, ihr zur Seite die Großpriorin und eine andere Würdenträgerin des Klosters. Die Aebtissin hielt den goldnen Hirtenstab – das Zeichen ihres Ranges – in der Hand. Inmitten tiefer Stille erhob sie sich und sprach:

»Geliebte Töchter! Mein, hohes Alter zwingt mich, diesen Stab jüngeren, kräftigeren Händen zu übergeben. Ich bin durch eine Bulle unsers heiligen Vaters dazu ermächtigt. Ich werde also die, auf die eure Wahl fällt, dem Herrn Erzbischof von Oppenheim zur Einsegnung vorführen. Unsere Großpriorin wird das Ergebnis der Wahl verkünden, und ich werde der Gewählten Ring und Stab übergeben.«

Unsere Tochter saß mit gefalteten Händen unbeweglich da, sie ahnte nicht, daß sie gewählt werden sollte. Nur ich wußte um ihre Erhebung, da die Aebtissin es mir mitgeteilt hatte. Die Großpriorin nahm nun eine Liste und las:

»Jede unserer Schwestern ist vor acht Tagen aufgefordert worden, ihre Stimme abzugeben und bis auf den heutigen Tag darüber zu schweigen, für wen sie gestimmt hat. Im Namen aller andern verkünde ich nun, daß die Wahl gefallen ist auf Prinzessin Amalie, die durch ihre große Frömmigkeit und hohe Tugend die Würdigste unter uns ist.« Ein Gemurmel freudiger Ueberraschung ging durch die Versammlung; aller Blicke wendeten sich voll zärtlicher Teilnahme auf unsere Tochter.

Marienblume wurde noch bleicher, ihre Kniee zitterten, und sie schien sich nur mühsam im Stuhle aufrecht zu halten. Die Aebtissin begann nun mit ernster Stimme:

»Meine Tochter! Ist es wirklich die Schwester Amalie, die frühere Großherzogin von Gerolstein, die ihr als die Würdigste unter euch anerkennt? Erwählt ihr alle sie zu eurer Oberin? Es antworte eine jede nach der Reihe.«

Und jede Schwester sprach mit lauter Stimme: »Frei und aus eignem Willen habe ich gewählt und erkenne Amalie als Oberin an.« – Von unbeschreiblicher Rührung ergriffen, fiel mein armes Kind in die Knie und verharrte mit gefalteten Händen in dieser Stellung, bis alle ihre Stimme abgegeben hatten. Hierauf übergab die Aebtissin Ring und Stab der Großpriorin und trat auf meine Tochter zu, um ihr die Hand zu reichen und sie zum Aebtissinnenplatz zu geleiten.

»Steh auf, liebe Tochter,« sagte sie zu ihr. »Nimm den Platz ein, der dir gebührt. Nicht dein irdischer Rang, sondern deine himmlischen Tugenden haben ihn dir erworben.« –Marienblume trat zitternd ein paar Schritte vor. In der Mitte des Saales angelangt, blieb sie stehen und sprach:

»Verzeiht mir, heilige Mutter, ich möchte zu meinen Schwestern sprechen.« – »Erst nimm deinen Platz ein, von dort laß dann deine Stimme hören.« – »Dieser Platz, heilige Mutter, kann nicht der meine sein,« antwortete Marienblume leise. »Ich verdiene diese hohe Würde nicht.« – »Was sagst du?« versetzte die Aebtissin. »All deine Schwestern wünschen es.«

»Erlauben Sie vorerst,« sagte Marienblume, »daß ich hier öffentlich und auf den Knien feierlich Beichte ablege – Sie und meine Schwestern werden bald sehen, daß ich im Gegenteil nur die niedrigste Stellung in Ihrer Mitte verdiene –« Ich erriet, was Marienblume bekennen wollte, und rief, von Entsetzen ergriffen: »Mein Kind, ich beschwöre dich!« –

Marienblume warf mir einen langen Blick zu – sie hatte mich verstanden. Sie sah ein, daß die Schande ihrer Enthüllungen auch auf mich fallen würde, daß man mich dann der Lüge bezichtigen könnte, da ich ja stets die Meinung erregt hatte, Marienblume hätte ihre Mutter nie verlassen.

Sie schwieg und senkte ihr Haupt tief zur Erde. – »Mein Kind,« sagte die Aebtissin, »du täuschest dich in übergroßer Bescheidenheit. Du bist einstimmig erwählt, das allein kann dir ein Beweis für deine Würdigkeit sein. Nicht Ihre Hoheit Prinzessin Amalie ist gewählt worden, sondern Schwester Amalie. Denn für uns beginnt dein Leben erst von dem Tage an, da du ins Kloster getreten bist. Und das musterhaft fromme Leben, das du seit diesem Tage geführt, das ist's, was wir belohnen. Hättest du vor deinem Eintritt ins Kloster auch das sündhafteste Leben geführt, dein Verhalten hier hätte genügt, die schwerste Schuld zu büßen.«

Diese Worte der Aebtissin taten Marienblume unendlich wohl. »Dann glaube ich, die Wahl annehmen zu können,« sagte sie mit matter Stimme. »Da ich mich aber sehr schwach fühle, so bitte ich Euch, die Feier der Einweihung um einige Tage aufzuschieben.«

»Das soll geschehen,« antwortete die Aebtissin. »Nur nimm deinen Platz ein, daß unsere Schwestern dir ihre Huldigung darbringen können.« Nach diesen Worten steckte sie ihr ihren Ring an den Finger, legte den Stab in ihre Hände und ließ sie auf dem Sitze Platz nehmen. Nun kamen die Schwestern eine nach der andern, knieten vor ihr nieder und küßten ihr die Hand. Ich sah, sie wurde mit jedem Augenblick erregter – das rührende Schauspiel überstieg ihre Kräfte – sie fiel in Ohnmacht.

Wir trugen sie ins Zimmer der Aebtissin. David versicherte mir, sie würde sich erholen. Möge er sich nicht täuschen! Als sie zu sich gekommen war, strahlte ihr Gesicht zu meiner Ueberraschung in engelhafter Heiterkeit. Aber ich fürchtete doch, hinter dieser Seligkeit die heimliche Hoffnung auf endliche Erlösung zu erblicken.

Die Aebtissin ließ mich mit ihr allein, und mein armes Kind bat mich inbrünstig um Verzeihung, daß sie vor allen hätte bekennen wollen, aus welchem Abgrund ich sie errettet, daß sie dadurch auch mich hätte verunglimpfen wollen. Ich beruhigte sie, und sie fügte hinzu: »Lieber Vater, ich habe noch lange zu leben, aber ich muß doch tot sein für diese Welt, und alles Irdische hat nichts mehr mit mir zu schaffen. Da will ich heute auch allem entsagen, was mich noch an diese Welt knüpft. Sie werden mir meine letzten Bitten erfüllen.« – »Befiehl,« antwortete ich, »ich werde alles tun, was du wünschest.«

»Ich wünsche, daß meine gute Mutter den Stickrahmen, an dem ich zuletzt noch gearbeitet habe, zu sich nehme und verwahre. Ich wünsche, daß Sie, mein Vater, den Lehnstuhl zu sich nehmen, in dem ich so oft gesessen und gegrübelt habe. Ich wünsche, daß die gute Madame Georges mein kleines Schreibzeug zum Andenken an mich erhält. Der ehrwürdige Pfarrer aus Bouqueval soll das schöne Christusbild aus meinem Zimmer bekommen. Mein Perlenstirnband soll der lieben Lachtaube geschickt werden, es paßt schön zu ihrem schwarzen Haar. Die Wölfin, die sich mit Martial in Algier befindet – Sie wissen doch, wo – soll zum Dank dafür, daß sie mir das Leben rettete, mein goldnes Kreuz erhalten. Sie alle sollen erfahren, daß diese Sachen Andenken an Marienblume sein sollen.«

»Ich werde deine Wünsche erfüllen – doch hast du niemand vergessen unter denen, die dich lieben?« – Sie sah mich an und verstand – einer Frage vorgreifend, die auf ihren Lippen schwebte, antwortete ich: »Es geht ihm besser. Er ist außer Lebensgefahr. Sein Vater lebt neu auf, da er seinen Sohn genesen sieht. Was gibst du Heinrich? Welches Andenken an dich soll er haben?«

»Vater, geben Sie ihm meinen Betschemel. Den habe ich oft mit Tränen benetzt, wenn ich den Himmel um Kraft bat, den Geliebten zu vergessen, dessen Liebe ich nicht verdiente! Was das Asyl für Waisen und verlassne Mädchen anbetrifft, so wünsche ich, mein Vater –«


Hier brach Rudolfs Brief ab und enthielt nur noch die fast unleserlichen Worte: »Murph wird dieses Schreiben beenden – ich habe nicht die Kraft dazu – o des dreizehnten Januar!«


Der Schluß des Briefes, von Murph geschrieben, lautete:

Gnädige Frau!

Auf Befehl Seiner Hoheit beende ich diesen traurigen Bericht. Die beiden Briefe unsers gnädigen Herrn haben Sie ja schon auf die Nachricht vorbereitet, die ich zu melden habe. Es sind wohl drei Stunden seitdem her, daß der gnädige Herr schrieb und ich im Zimmer nebenan wartete, um die Briefe sogleich durch Eilboten abzuschicken. Plötzlich kam die Prinzessin Juliane mit verstörter Miene herein. »Sir Walter.« sagte sie, »Seine königliche Hoheit muß etwas Schreckliches erfahren. Bereiten Sie ihn, darauf vor. Aus Ihrem Munde trifft es ihn vielleicht minder schwer.«

Ich begriff, was geschehen war, und hielt es in der Tat für ratsam, die Botschaft selber zu bestellen. Die Prinzessin hatte mir mitgeteilt, Amalie läge im Sterben und Seine Hoheit müsse sich beeilen, wenn er noch ihre letzten Seufzer hören wolle. Ich eilte zu Seiner Hoheit hinein, der die Kunde schon von meinem Gesicht ablas und mit mir ins Kloster eilte.

Prinzessin Amalie war in ihre Zelle gebracht worden. Eine Schwester wachte bei ihr. David war gerufen worden und hatte vergebens versucht, die verlöschenden Lebensgeister zu wecken. Er mußte einsehen, daß menschliches Können hier nichts mehr zu verrichten imstande sei. Die Prinzessin hatte die Sterbesakramente empfangen, als Seine Hoheit eintrat. Ein schwacher Schimmer von Bewußtsein war ihr noch geblieben – in den über der Brust gefalteten Händen hielt sie die Ueberreste ihres kleinen Rosenstocks.

Der gnädige Herr stürzte zu ihrem Bette hin, fiel auf die Knie und schluchzte: »Mein Kind! mein Kind!« – Prinzessin Amalie hörte ihn, öffnete die Augen, erkannte ihn, lächelte und antwortete mit kaum vernehmlicher Stimme: »Mein guter, lieber Vater, verzeih mir – auch Heinrich – auch du, meine teure zweite Mutter! Verzeiht mir alle!«

Dies waren ihre letzten Worte. – Eine Stunde noch schwebte sie sanft zwischen Leben und Tod – dann war sie hinüber. Der gnädige Herr sprach kein Wort – sein Schweigen war entsetzlich – er drückte ihr die Augen zu, küßte sie mehrmals, entzog ihren kalten Händen die Ueberreste des Rosenstockes und ging hinaus. Ich folgte ihm, er kehrte in das Haus vorm Kloster zurück, zeigte mir den begonnenen Brief und sagte nur: »Ich kann nicht weiterschreiben. Mein Kopf droht zu springen. Schreibe du der Großherzogin, daß sie keine Tochter mehr hat.«

Das habe ich nun hiermit getan, doch nun möge mir als dem ältesten Diener des gnädigen Herrn auch erlaubt sein, die Bitte hinzuzufügen, die dringende Bitte: Kommen Sie so schnell wie nur irgend möglich zurück! Nur Ihre Anwesenheit kann unsern gnädigen Herrn vorm Wahnsinn erretten!

Damit ist mein trauriges Amt erfüllt. Empfangen Sie die Versicherung meiner Ehrfurcht und Hochachtung, mit der ich die Ehre habe zu verbleiben

Eurer Königlichen Hoheit
                        gehorsamster Diener

Walter Murph.


Am Vorabend des feierlichen Trauergottesdiensts für Prinzessin Amalie traf Clemence mit ihrem Vater in Gerolstein ein, und Rudolf war am Begräbnis seiner Tochter, der armen Marienblume, nicht allein.

 

Ende.

 


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