Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Ein Engel.

Frau Pipelet stand mit ihrem Manne in der Haustür, als die Marquise erschien. Aber die Treppe lag so im Dunkeln, daß man sie nicht wahrnehmen konnte. Die Marquise blieb deshalb davor stehen und sah sich um. Als sie die Pförtnerin erblickte, fragte sie mit bewegter, fast klangloser Stimme: »Herr Karl . . . wo?«

Frau Pipelet stellte sich, als verstände sie die Frage nicht, um ihrem Manne Zeit zu schaffen, das Gesicht der Dame durch den Schleier hindurch zu erkennen . . . »Ach, Herr Karl?« fragte sie nach einer Weile. »Aber, meine Dame, Sie sprechen so leise, warum denn? nun, Herr Karl wohnt gleich über der Treppe. Sie brauchen nur gradaus zu gehen, um auf die Tür zu laufen.« – Als sie sah, wie die Marquise den Fuß auf die Treppe setzte, lachte die Pförtnersfrau und dachte bei sich: »Na, heute wirds mal zum Klappen kommen . . . Prosit die Mahlzeit! . . . Da bekommt wieder mal so ein liebes Männchen ein Küken ins Nest gelegt, an dem ihm wohl das allerwenigste zugehört.«

Die Marquise, vor Scham und Schreck fast außer sich, wäre sicher wieder umgekehrt, hätte sie nicht vor der Pförtnerloge wieder vorbeigehen müssen, vor der noch immer die Frau mit dem Manne stand, die sie so hämisch angesehen hatten . . . So aber ging sie weiter die Treppe hinauf. Wie aber staunte sie, als sie sich auf der obersten Stufe Rudolf gegenüber sah, der ihr eine Börse in die Hand gab mit den Worten: »Ihr Gemahl weiß alles. Er folgt Ihnen auf dem Fuße.« – Da erklang die kreischende Stimme der Pförtnerin: »Wohin denn, Herr? Wohin?« – »Er ist es,« sagte Rudolf, der Marquise nach der Treppe zum zweiten Stockwerk winkend . . . »Die Familie oben im fünften Stock,« flüsterte er, »wird Ihnen Beistand leisten: sie heißt Morel.« –

»Herr,« rief unten die Pförtnerin wieder, »ich lasse Sie nicht vorbei, wenn Sie mir nicht sagen, wohin Sie wollen!«

»Ich will mit der Dame sprechen, die eben ins Haus getreten ist,« antwortete der Marquis.

»So? Na, das ist etwas anderes! Dann gehen Sie meinetwegen!«

Infolge des Spektakels hatte Herr Karl Robert die Tür leicht angelehnt. Da trat Rudolf rasch zu ihm und schloß die Tür hinter sich ab, und zwar gerade in dem Augenblicke, als der Marquis von Harville davor trat. Rudolf hatte gefürchtet, trotz der herrschenden Dunkelheit von ihm erkannt zu werden, und deshalb die Gelegenheit wahrgenommen, sich vor ihm zu entfernen. Als Herr Karl Robert Rudolf vor sich stehen sah, war er ganz verdutzt, hatte er doch auf dem Balle Rudolf kaum gesehen und trug doch Rudolf augenblicklich mehr denn bescheidene Kleidung . . .

»Herr, was . . .« hub Herr Karl Robert an. – »Still!« versetzte Rudolf leise und mit einem solchen Ausdruck ängstlicher Sorge, daß der andere unwillkürlich den Mund schloß.

Ein Gepolter, wie wenn ein schwerer Körper falle und ein paar Stufen hinunterrolle, drang durch die Stille, die in dem Hause geherrscht hatte. –

»O! Der Unglückliche hat sie ermordet!« rief Rudolf. – »Ermordet? Wen?« versetzte Robert; »aber sagen Sie mir doch: Was geht denn hier vor?«

Rudolf hatte, ohne zu antworten, die Tür halb geöffnet. Der lahme Junge kam, mit der rotseidenen Börse in der Hand, die Rudolf der Marquise in die Hand gedrückt, die Treppe hinunter gerast. Oben hörte man den leichten Schritt der Marquise und den schweren ihres ihr in die höheren Stockwerke folgenden Gemahls, zwar war es Rudolf unfaßlich, wie der lahme Junge zu der Börse gekommen sein konnte; immerhin war er ruhiger geworden und sagte zu Robert: »Gehen Sie nicht hinaus! Wenig fehlte, so hätten Sie alles verdorben.«

»Aber, mein Herr . . .« begann Robert wieder in ungeduldigem, fast unwilligem Tone, »wollen Sie mir endlich sagen, was dies alles bedeutet?« – »Weiter nichts, als daß der Marquis alles weiß, und daß er jetzt seiner Frau in die oberen Stockwerke folgt.« – »O, mein Gott! Mein Gott!« rief Karl Robert, voll Entsetzen die Hände faltend, »und was will sie oben?« – »Was kann Ihnen daran liegen, das zu wissen?« antwortete Rudolf; »bleiben Sie hier und gehen Sie nicht früher weg, als bis es Ihnen die Pförtnersfrau sagt.«

Eine Beute des Schrecks und des Erstaunens, stand Robert da und ging in die Pförtnerstube hinunter . . . »Liebe Frau Pipelet,« sagte er, »würden Sie mir wohl einen Dienst erweisen?« Dabei drückte er der Frau fünf Louisdor in die Hand. – »Sobald die Dame, die vorhin eingetreten ist, wieder herunterkommt, so erkundigen Sie sich doch, wie es um Morels steht, und sagen Sie ihr, daß sie sich um die Leute wirklich einen Gotteslohn verdiene. Der Herr, der ihr hinterher ins Haus getreten, ist ihr Mann; die arme Frau ist aber noch rechtzeitig gewarnt worden, so daß sie zu Morels hinaufgehen und sich stellen konnte, als käme sie mit einem Almosen zu ihnen. Sie verstehen doch?«

»Na, ob ich verstehe!« erwiderte die Frau, »wollen Sie in der Ecke hier hinter dem Vorhange stehen bleiben? Ich höre sie kommen.«

Rudolf versteckte sich geschwind. Marquis und Marquise kamen die Treppe hinunter. In Harvilles Zügen stand der Ausdruck reinen Glückes zu lesen, gemischt mit Verwunderung und Verlegenheit. Die Marquise sah ruhig, aber bleich aus . . . Frau Pipelet trat aus ihrer Stube und sagte: »Nun, meine gute liebe Dame, wie gehts oben bei den armen Leuten? Nicht wahr, die Not kann einem das Herz umdrehen! Ich sagte Ihnen ja schon das letzte Mal, als Sie hier waren, daß es nun wohl zu Ende gehen werde. Aber Sie sind den armen Leuten wirklich ein Engel!«

Mit bewunderndem Blicke maß der Marquis seine Gemahlin und rief: »O, ein Engel! Ja, ein Engel bist du auch, meine teure Clemence! Schändlich doch, solch erbärmliche Verleumdung!« Und als er durch die Tür trat, setzte er hinzu: »Clemence, wie tief bin ich in deiner Schuld! O, gewähre mir Verzeihung!« – Wehmütig antwortete die Frau: »Und wer bedürfte der Verzeihung nicht?«

Tief bewegt durch diese Szene, trat Rudolf aus seinem Versteck . . . »Nun können Sie Ihrem Kommandanten sagen, daß das Feld rein ist und daß er sich wieder zeigen darf.« – Frau Pipelet ging zu dem Mieter hinauf und klingelte. Karl Robert öffnete, maß die Frau mit einem zornigen Blicke, als sie ihn fragte, ob sie morgen wieder heizen solle, und ging, ohne über das seltsame Zusammentreffen mit Rudolf und über den ganzen Hergang die geringste Aufklärung bekommen zu haben. Gerade als er durch den Hausflur ging, trat ihm der lahme Junge in den Weg . . . »He, was willst du hier, Strolch?« fragte ihn Frau Pipelet. –

»Hat nicht die Eule nach mir gefragt?« erkundigte sich der Junge, statt auf die Frage der Frau zu antworten. – »Die Eule? Nein! Warum sollte sie dich suchen?« – »Ich sollte mit ihr aufs Land hinaus fahren,« antwortete der Junge, indem er sich in der Tür herumlümmelte. »Mein Vater hat Bradamanti gebeten, mir heute Urlaub zu geben, eben weil ich aufs Land hinaus sollte.« Plötzlich rief er: »O, da kommt eine Droschke! Das ist die Eule! Juchhe! Wir fahren!«

In dem Wagen kam wirklich das gräßliche Gesicht der Einäugigen in Sicht, die dem kleinen Lahmen winkte. Der Kutscher öffnete den Wagenschlag, und der Junge stieg ein. Aber – die Eule war nicht allein, denn in der andern Ecke des Wagens saß Bakel, in einen alten Mantel mit Pelzkragen gehüllt und das Gesicht durch eine schwarzseidene Mütze verdeckt.

Der Wagen verließ die Rue du Temple. Nach Verlauf von zwei Stunden, in der Abendzeit, hielt er vor einem Kreuze an der Stelle, wo von der Straße ein öder Hohlweg zur Meierei Bouqueval hin führte, in der sich unter Obhut der Frau Georges die Schalldirne befand.


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