Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Sechstes Kapitel.

Luise.

Morels Verstand schien unter all den harten Schlägen wanken zu wollen. Die Frau rief nach dem Kinde . . . »Ja doch, ja doch,« antwortete der Mann, »eins nach dem andern, Mutter! sie kommen alle an die Reihe!« Die Hände vor das Gesicht schlagend, fing er laut an zu jammern, während seine Frau die kleine Leiche in das Stroh ihren Lagerstatt legte. Die andern Kinder weinten bitterlich.

Einen Augenblick hatte dies unsägliche Elend auch die beiden Gerichtsbeamten mitleidig gestimmt; doch dauerte die Empfindung nicht lange, und Malicorne forderte den armen Steinschleifer von neuem auf, sich zu dem Gange fertig zu machen, indem er sagte: »Na ja, das Kind mußte nun auch nicht gerade jetzt sterben, aber was kanns helfen? Sterben müssen wir doch einmal alle, der eine wird früher abkommandiert als der andere, einer schon in seiner Jugend, andere erst im hohen Alter. Dagegen gibts nun mal keinerlei Kraut! – Aber jetzt marsch weiter! Wir haben noch jemand anders abzuholen, an Arbeit fehlt's für uns nicht, und wenn ich nicht sehr irre, so bekommen Sie unterwegs noch recht gute Gesellschaft.«

Morel hörte nichts von diesen Worten, sondern stand, in finsteres Sinnen vertieft, mit dem toten Kinde auf den Armen da . . . »Der Mensch verliert schließlich noch seinen Verstand,« meinte Bourdin zu seinem Kameraden; »sieh doch nur, was für Augen er macht! Man könnte sich schier vor ihm fürchten.« – »Aber wir müssen doch einmal zu Rande kommen,« sagte Malicorne, »die Spesen zahlt halt der Gläubiger, denn hier ist ja nichts zu holen . . . Also, Mann,« wandte er sich wieder zu Morel, ihm auf die Achsel klopfend, »Zeit zu warten haben wir nicht mehr; machen Sie sich zum Mitgehen fertig und zwingen Sie uns nicht erst zu Gewaltmaßregeln, was ja doch keinen Zweck hätte.« –

Da trat ein junges, niedliches Mädchen in die Dachstube . . . »Was sagen Sie?« fragte sie die beiden Männer, »ins Gefängnis sollen Sie, Herr Morel?« – »Ach, liebes Fräulein,« rief eines von den Kindern, »helfen Sie doch dem Vater!« – Und ein anderes Kind rief: »Ach, liebes Fräulein, die kleine Adele ist tot!«

»O, über all den Jammer!« wehklagte Lachtaube; und ihre Augen füllten sich mit Tränen . . . »wie soll da ich helfen? Ich bin doch auch nur ein armes Ding!« – »Ja, wir können's auch nicht ändern,« sagte Malicorne höhnisch, »wenn kein Geld da ist und keins geschafft werden kann, dann hilfts eben nicht; dann muß der Mann mit!«

Morel hatte auf einen Augenblick das Bewußtsein seiner Lage wiedergefunden . . . »Ich darf die Diamanten nicht hier zurücklassen,« sagte er, auf die auf dem Tische herumliegenden Steine zeigend, »denn meine Frau ist nicht mehr recht bei sich, und die Person, die mir die Arbeiten vermittelt, wollte heute herkommen und sie abholen. Die Steine haben doch keinen geringen Wert!«

»Schön,« sagte der Lahme wieder, »das will ich der Eule stecken!«

Malicorne sagte zu Morel, er möge doch die Steine mitnehmen, in Clichy lägen sie doch so sicher wie auf der Bank. »Doch nun geschwind! Wir wollen still hinausgehen, damit die Frau nichts merkt!«

Morel nahm einen Moment wahr, in welchem Frau und Kinder sich mit der kleinen Leiche befaßten, und verließ vorsichtig die Stube. Kaum aber war er auf die Treppe getreten, so hörte er die Stimme seiner ältesten Tochter . . . »Vater, Vater! Gott sei Dank, ich komme noch gerade zurecht!« rief Luise und stürmte die Treppe hinauf . . . Eine rauhe Stimme von unten rief: »Keine Bange, Kind!« – und sie gehörte niemand, als Frau Pipelet, die mit Luisen hergerannt war, aber fast keinen Atem mehr hatte, »keine Bange! Ich stelle mich vorm Hause mit meinem Manne auf, und lasse niemand heraus, ehe Sie Ihre Sache ausgerichtet haben.«

»Bist du es wirklich, Luise?« rief Morel, während ihm Tränen in die Augen traten; »aber was fehlt dir? Du siehst ja schrecklich bleich aus!« – »Mir fehlt nichts,« versetzte Luise, stotternd; »ich bin nur so schnell gerannt . . . Da ist das Geld, Vater, du bist frei! Laß die Menschen laufen!« Und sie übergab Malicorne eine Rolle mit Goldstücken.

»Wo hast du das Geld her, Luise?« fragte Morel, dem Mädchen angstvoll in die Augen starrend. –

Unterdessen zählte Malicorne nach . . . »Ja,« sagte er. »es stimmt. Der Stamm wäre in der Ordnung. Aber wie stehts mit den Kosten und Zinsen? Das macht noch beinahe ebensoviel!« – »Aber, Vater, es waren doch bloß 1300 Franks, die du an Ferrand zu bezahlen hattest? Nicht wahr?« fragte Luise, voll lebhafter Bestürzung zu dem Vater aufschauend. – »Ganz recht, aber Kosten und Zinsen machen auch beinahe 200 Franks aus!«

»Ach du lieber Gott!« klagte Luise, »daran habe ich nicht gedacht! Ich bezahle den Rest später, lieber Herr, rechnen Sie, was ich jetzt bezahlt habe, auf Abschlag! Bitte, bitte!« – »Auf so etwas dürfen wir uns nicht einlassen, liebes Fräulein. Das wäre wider die Instruktion. Wenn Sie die 200 Franks zusammenhaben, kommen Sie damit nach Clichy. Dann werden die Leute dort Ihren Vater schon freilassen; aber – vergessen Sie dann auch nicht, daß Sie das Geld noch für Unterhalt Ihres Vaters zu bezahlen haben. Der Tag wird mit 4 Franks gerechnet.«

Luise bettelte um Nachsicht . . . »Na, da haben wirs!« rief Malicorne, »nun geht das Gewinsel von frischem an! Das kriegt man aber satt!« – Und zu Morel sich wendend, sagte er: »Marsch nun! Und wenn Sie sich noch immer dagegen sperren, so nehme ich Sie am Kragen und zerre Sie die Treppe hinunter.«

»Ach, lieber Gott!« klagte Luise, »und ich dachte, ihn gerettet zu haben!«

»Nein!« rief Morel verzweifelt, »es gibt keinen Gott! Mögen die Pfaffen reden, was sie wollen!« und er stampfte wild mit dem Fuße . . . »Und doch gibts einen gerechten Gott!« sagte eine Stimme, die von der andern Seite des Daches her klang, »der sich der rechtschaffenen Menschen immer annimmt, wenn sie in unverschuldeter Not sind . . .« – Und Rudolf trat in die Tür, blassen Angesichts und tief ergriffen . . .

Die beiden Büttel traten unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie den fremden Mann erblickten. Auch Morel und seine Tochter waren außer sich vor Bestürzung . . . Rudolf nahm ein paar Bankscheine aus seiner Brieftasche und behändigte sie Malicorne mit den Worten: »Da haben Sie, was Stamm, Zinsen und Kosten zusammen betragen. Geben Sie dem armen Mädchen die Goldstücke wieder, die sie Ihnen bezahlt hat.«

Der Büttel nahm das Geld, beguckte es von allen Seiten, ehe er es einsteckte, faßte dann Rudolf mit inquisitorischem Blicke ins Auge und fragte, ob er auch mit vollem Recht über soviel Geld verfügen dürfe . . . Rudolf war schlicht gekleidet, auch durch sein Verweilen mit Pipelet in der Dachstube mit Staub bedeckt . . .

»Hast du nicht verstanden,« versetzte Rudolf schroff, »daß du dem Mädchen das Geld wiedergeben sollst?« und als der Mann keine Anstalten dazu machte, packte er ihn so fest am Handgelenk, daß er auf die Knie niederstürzte und zu winseln anfing. – Kaum aber hatte ihn Rudolf losgelassen, so trat er zornig auf ihn zu und fragte, wie Rudolf dazu komme, ihn mit du anzureden? – Rudolf drohte, ihn wieder zu packen . . . Da zauderte aber Malicorne nicht länger, sondern gab Luisen das Geld zurück und rannte, da er Stamm, Zinsen und Kosten durch Rudolf bekommen, die Treppe hinunter und aus dem Hause heraus.


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