Eugen Sue
Die Geheimnisse von Paris
Eugen Sue

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Zweites Kapitel.

Morel, der Steinschneider.

So schmerzlich sie der Anblick des Irrenspitales betroffen hatte, so blieb Frau Georges doch unwillkürlich vor einem vergitterten Hofe stehen, in welchem sich die unheilbaren Kranken dieser Gattung befanden . . . jene armseligen Geschöpfe, die oft nicht einmal den Instinkt des Tieres besitzen, von denen manche nicht einmal wissen, woher sie stammen, welcher Eltern Kinder sie sind! Die allen, ja sich selbst unbekannt, aller Empfindung bar, alles Denkvermögens beraubt, durch das Leben schleichen und nur die niedrigsten tierischen Bedürfnisse haben. Gemeinhin wird von diesem grausen Geschicke nur die ärmste Klasse der Gesellschaft betroffen, denn es pflegt nur im Schoße der Armut zu hausen, nur in jenen widerwärtigen stinkenden Höhlen des Elends, wo Mangel am Allernotwendigsten herrscht, wo der Mensch sich nicht als Mensch, sondern als Bestie zeigt.

Doktor Herbin brauchte Frau Georges nicht auf den Ausdruck von Vertierung und rohester Gefühllosigkeit aufmerksam zu machen, der dem Gesichte solcher Unglücklichen unter den Menschen ein zugleich häßliches und widerwärtiges Aussehen gibt. Sie gingen fast sämtlich in schmutzigen, zerrissenen Sachen, denn selbst die schärfste Wachsamkeit vermag diese der Vernunft beraubten Wesen nicht zu hindern, daß sie alles, was sie auf dem Leibe tragen, zerfetzen und besudeln, kriechen sie doch sogar fast immer wie die Tiere auf der Erde herum, oder hocken sich in irgend einen dunkeln Winkel des Schuppens, der sie vor den Unbilden der Witterung schützen soll, oft übereinander gekauert, wie Raubtiere in ihren Höhlen, oft knurrend, röchelnd, brüllend wie diese, oft sich einander beißend, wenn nicht gar zerreißend, wie diese!

Auf einem Holzschemel, stumm und in die Sonne gaffend, hockte ein unheimlich feister Greis, mit der Gierigkeit eines Raubtieres sein Essen verschlingend, das ihm in einem hölzernen Napfe gebracht worden war. Wild stierte er jeden an, der sich ihm näherte, und wehe dem, der die Hand nach seinem Napfe ausgestreckt hätte! Ein anderer rannte wie ein Löwe in seinem Zwinger in einem fort an den vier Wänden des Schuppens herum. Noch andere kauerten an der Erde, den Oberleib in einem fort hin und her wiegend, bald vor-, bald rückwärts, die einförmige Bewegung bloß unterbrechend, um einmal laut aufzuschreien oder ein blödes Lachen hören zu lassen. Die Vertiertesten aber waren jene, die in gänzlicher Stumpfheit die Augen nur während der Essenszeit aufschlugen, die ganze andere Zeit aber wie leblos auf der Erde herumlagen, blind und taub gegen alles, was um sie her vorging, die keinen menschlichen Laut mehr von sich geben, die kaum noch den Mann erkannten, der ihnen als Wärter zugeteilt war.

»O, diese armen, armen Menschen!« rief Frau Georges, von tiefem Mitleid für diese Unglücklichen erfüllt, die dem Leben gänzlich abgestorben sind, »es ist doch ein gar schmerzliches Bewußtsein, daß es gegen solche Krankheit kein anderes Heilmittel gibt als den Tod.«

»Ja, gnädige Frau,« erwiderte der Doktor. »Gegen diese Krankheit kennen wir noch kein wirksames Heilmittel. Ganz ohnmächtig sind wir gegen sie, wenn sie erst nach den Pubertätsjahren auftritt. Solange der Mensch noch Kind ist, läßt sich wenigstens durch eine gewisse Erziehung das Atom von Verstand, das noch in seinem Geiste vorhanden, wenn auch immerhin nur in einem mäßigen Grade, zur Entwickelung bringen. Freilich gehört ebensoviel Scharfsinn wie Ausdauer dazu, einigermaßen befriedigende Resultate zu erlangen. Durch gleichzeitige Hebung der leiblichen wie der geistigen Kräfte kann man es dahin bringen, daß Irrsinnige die Buchstaben und Zahlen verstehen, auch die Farben unterscheiden lernen, ja man hat einzelne soweit gedrillt, daß sie eine Art Chorgesang üben, wenn auch dabei gesagt werden muß, daß es recht trübselig wirkt, ihre kläglichen, oft auch recht schmerzlichen Stimmen in einem Liede sich vereinigen zu hören, für dessen Worte kein einziger dieser Sänger Verständnis hat . . . Aber wir sind jetzt in der Abteilung angelangt, die den Steinschneider Morel beherbergt. Ich habe empfohlen,« sagte der Irrenarzt, »ihn heut morgen absolut nicht zu stören, ihn mit gar nichts zu behelligen, damit er dem Eindruck, den ich auf ihn hervorzubringen hoffe, völlig unbeeinträchtigt, völlig uninteressiert für anderes, sich hingeben könne.«

»Wie zeigt sich denn bei ihm die Krankheit?« fragte Frau Georges den Arzt, jedoch leise, daß Luise sie nicht hören konnte.

»Er steht unter dem Wahne, die Summe von 1300 Franks aufbringen zu müssen, die er einem gewissen Ferrand schuldig sei, weil, wenn er dazu nicht imstande sei, seine Tochter Luise dann ihr Haupt unter das Fallbeil legen müsse.«

»Ach, Herr Doktor,« erwiderte Frau Georges, »dieser Ferrand ist ein sehr böser Mensch gewesen! Ein Glück für die Menschheit, daß der Tod sie von ihm erlöst hat! Luise Morel und ihr armer Vater sind nicht die einzigen Opfer, die seine Schlechtigkeit vernichtet hat! Auch meinen Sohn hat er mit dem maßlosesten Hasse verfolgt.«

»Fräulein Luise Morel,« antwortete der Arzt, »hat mir alles erzählt. Ja, Sie haben recht, liebe Frau, es ist ein Glück für die Menschheit, daß der Tod sie von ihm erlöst hat. Doch gedulden Sie sich, bitte, eine Weile! Ich will in die Zelle des armen Mannes gehen und erst einmal sehen, wie es um sein Befinden steht.« – Ehe er aber fortging, winkte er Luisen zu sich heran und sagte leise zu ihr: »Mein liebes Kind, geben Sie, bitte, recht genau acht auf jedes Wort, jeden Wink von mir! Sobald ich Herein rufe, müssen Sie kommen. Aber allein, ganz allein, verstehen Sie? – Und erst, wenn ich zum zweiten Male Herein rufe, dürfen die anderen sich zeigen.«

»Ach, lieber Herr Doktor,« antwortete das Mädchen, sich die Tränen aus den Augen wischend, »mir ist das Herz so beklommen! Was sollte bloß mit meinem armen Vater werden, wenn auch dieser Versuch zu seiner Heilung scheitern sollte.«

»Hoffentlich,« sagte der Arzt, »wird das Gegenteil der Fall sein, hoffentlich wird das Experiment ihn retten. Darauf vorbereitet habe ich ihn schon lange. Beruhigen Sie sich also und denken Sie nur daran, was ich Ihnen eben ans Herz gelegt habe.«

Nach diesen Worten trat der Arzt in eine Zelle, deren vergitterte Fenster in den Garten hinaus führten. Morels Aussehen hatte sich gegen früher erheblich gebessert. Durch die Ruhe, die gesunde Kost und die angemessene Pflege war die leichenhafte Blässe von seinem Gesichte gewichen und hatte einer leichten Röte das Feld geräumt. Er war auch nicht mehr so schrecklich mager wie vorher. Aber ein trübsinniges Lächeln und ein stierer Ausdruck in seinem Blicke verrieten, daß sein Verstand noch immer nicht völlig zurückgekehrt war.

Er saß, als der Arzt eintrat, in gebückter Haltung vor einem Tische und bewegte den rechten Arm, als sei er mit seiner gewöhnlichen Arbeit beschäftigt . . . »Dreizehnhundert Franks,« murmelte er vor sich hin, »dreizehnhundert Franks muß ich heut noch zusammenbringen, denn ich bin sie ja Ferrand schuldig, und wenn ich sie dem Bösewicht nicht bezahle, dann bringt er meine arme Tochter, meine kleine Luise, aufs Schafott; ganz sicher, denn in dem Herzen dieses Menschen wohnt kein Mitleid, keine Spur von Mitleid!« Und schneller hantierte er, schneller fuchtelte er mit dem Arme in der Luft hin und her . . . »Arbeiten, arbeiten mußt du, Morel, denn du bist kein reicher Mann, du kannst das Geld nur schaffen, wenn du tüchtig arbeitest, und dreizehnhundert Franks sind keine Kleinigkeit – bis die beisammen sind, brauchts Zeit! brauchts Zeit!«

Diese Gedanken hatten seinen Wahnsinn erzeugt, und über sie war er auch noch nie hinausgekommen, seit er erkrankt war . . . Aber die Anfälle hatten sich in den letzten Wochen immer seltener gezeigt. Deshalb war es dem Doktor Herbin recht schmerzlich, daß dieser Anfall gerade heute hatte wiederkehren müssen, wo er das entscheidende Experiment mit ihm vorhatte. Aber er nahm sich vor, diesen Umstand für sein Vorhaben auszunützen. Er schüttete aus seiner Börse 65 Louisdor in die Hand und trat ohne weiteres, mit dem Gelde klimpernd, zu Morel heran, der, in seine Hantierung vertieft, den Eintritt des Doktors noch nicht bemerkt hatte.


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